Nicht nur Briten stören sich an Personenfreizügigkeit

Britain´s Prime Minister Theresa May arrives at 10 Downing Street, in central London
Britain´s Prime Minister Theresa May arrives at 10 Downing Street, in central London(c) REUTERS (PAUL HACKETT)
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Der britische Abschied von Europa wird den Binnenmarkt verändern. Nicht nur in London ist man daran interessiert, den eigenen Arbeitsmarkt für EU-Ausländer unattraktiver zu machen.

Brüssel. „Brexit heißt Brexit“, so lautet der Schlachtruf der neuen britischen Premierministerin. Theresa May will den Wählerwillen respektieren und Großbritannien aus Europa führen – zu welchen Bedingungen dies geschehen soll, ist allerdings noch offen. Mit der Bestellung des Brexit-Befürworters David Davis (siehe Seite 6) zum Minister für die Austrittsverhandlungen mit der EU stellte May allerdings die erste Weiche: Die Europa-Gegner haben nun die Gelegenheit, ihre Wahlversprechen in die Tat umzusetzen. Sollten sie daran scheitern, werden sie allein die Verantwortung dafür tragen.

Dass die Briten den Brexit-Slogans von der Wiedererlangung der Souveränität gefolgt sind, ist nicht primär dem Wunsch nach der Konservierung der demokratischen Traditionen Großbritanniens geschuldet, sondern vor allem dem konkreten Bedürfnis nach einer spürbaren Reduktion der Zuwanderung. Mays glückloser Vorgänger, David Cameron, hatte bekanntlich versprochen, die Zahl der Neuankömmlinge auf „einige Zehntausend“ zu reduzieren – im Vorjahr waren es allerdings rund 330.000. Die Migration wird also zum Maßstab des Erfolges bei den Verhandlungen mit der EU.

Achse London–Paris?

Unbehagen mit der Personenfreizügigkeit gibt es nicht nur in Großbritannien, auch in Frankreich ist nicht jeder glücklich über Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – dass die Franzosen 2005 gegen die EU-Verfassung gestimmt hatten, hatte nicht zuletzt mit Ängsten vor einer Invasion „polnischer Installateure“ zu tun, denen die Verfassung angeblich Tür und Tor öffnen sollte. London könnte also mit seiner Forderung nach dem Ende des freien Personenverkehrs auf offene Ohren stoßen. So hat der mögliche Präsidentschaftskandidat der französischen Konservativen, Alain Juppé, angedeutet, er sei bereit, über die Personenfreizügigkeit zu reden.

Das Angebot aus Paris ist allerdings aus zwei Gründen mit Vorsicht zu genießen. Erstens, weil Frankreich nicht für alle EU-Mitglieder spricht, und zweitens, weil das Offert nicht uneigennützig ist: London müsste sich die Einschränkung der Personenfreizügigkeit mit eingeschränktem Zugang zum Binnenmarkt erkaufen – etwa im Finanzbereich, was nicht überraschend wäre angesichts der Tatsache, dass Paris die City of London als Europas wichtigsten Finanzplatz beerben will. Aus der französischen Perspektive wäre das ein exzellenter Deal: Für ein de facto wertloses Zugeständnis an die „Brexisten“ (denn Großbritannien wird in der Landwirtschaft, dem Gesundheitswesen und anderswo weiterhin Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte benötigen) bekommt man die Filetstücke der britischen Wirtschaft.

Dass Londons Abschied von Europa den Binnenmarkt verändern dürfte, liegt allerdings auf der Hand – jene Ausnahmeregeln zur Einschränkung von Sozialleistungen für EU-Ausländer, die man für die Briten zu Jahresbeginn verfasst hatte, lassen sich nicht einfach so ungeschrieben machen. Auch die anhaltenden Diskussionen um eine Reform der EU-Entsenderichtlinie deuten in dieselbe Richtung: Westeuropäische Arbeitsmärkte sollen für osteuropäische Arbeitskräfte unattraktiver werden – eine Entwicklung, der die Osteuropäer allerdings zustimmen müssten. Diese Zustimmung ließe sich allerdings erkaufen: etwa mit Zugeständnissen beim EU-Budget 2021–2027, in der Flüchtlingsfrage oder durch die militärische Stärkung der Ostflanke gegenüber Russland.

(c) Die Presse

Doch es gibt einen Unterschied zwischen Arbeitsmarktpolitik und Personenfreizügigkeit: Erstere ist verhandelbar, Letztere integraler Bestandteil des Betriebssystems der EU. Gemäß Eurostat lebten im Vorjahr rund 15,2 Millionen EU-Bürger in einem anderen Mitgliedstaat der Union (davon drei Mio. in Großbritannien), der Anteil der EU-Ausländer an der Gesamtbevölkerung reichte von 0,1 Prozent in Litauen und Polen bis 39,5 Prozent in Luxemburg. Das Ende des freien Personenverkehrs würde erstens den Rechtsstatus dieser Personen (etwa hinsichtlich der Pensionsansprüche) infrage stellen, wäre zweitens ein Albtraum für europäische Unternehmen und würde drittens den Fortbestand der gesamten EU gefährden. Denn der Binnenmarkt bietet jedem Teilnehmer einen individuellen Mix aus Vor- und Nachteilen. Das eine gibt es nicht ohne das andere – es sei denn, man glaubt wie der frischgebackene britische Außenminister, Boris Johnson, daran, einen Kuchen gleichzeitig essen und behalten zu können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2016)

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