Brexit: „Notbremse“ in Reichweite?

Blick auf die Skyline von London: Die britische Regierung will Arbeitsmarktbeschränkungen für EU-Ausländer erstreiten.
Blick auf die Skyline von London: Die britische Regierung will Arbeitsmarktbeschränkungen für EU-Ausländer erstreiten.(c) APA/AFP/NIKLAS HALLE´N
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Laut Berichten halten Diplomaten zeitlich limitierte Beschränkungen des Arbeitsmarkts für EU-Ausländer für möglich – bei vollem Zugang zum Binnenmarkt.

London. In die offiziell noch nicht einmal aufgenommenen Gespräche zwischen Großbritannien und den EU-Staaten scheint Bewegung zu kommen. Die Londoner Sonntagszeitung „The Observer“ berichtete gestern unter Berufung auf britische und europäische Diplomaten, dass man derzeit die Idee einer zeitlich befristeten „Notbremse“ für den Zugang von EU-Bürgern zum britischen Arbeitsmarkt prüfe, während Großbritannien weiter Mitglied im Binnenmarkt der Union bliebe.

„Das ist sicherlich eine der Ideen, die auf dem Verhandlungstisch liegen“, zitierte das Blatt einen namentlich nicht genannten Diplomaten, der zugleich warnte: „Wir sind erst ganz am Anfang.“ Eine derartige Lösung würde London genau jene Extrawurst gewähren, vor der führende europäische Politiker regelmäßig warnen, dass es sie nicht geben dürfe. „Rosinenklauberei“ werde es nicht gegeben, sagte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, wenige Tage nach dem Brexit-Votum am 23. Juni.

Laut dem Zeitungsbericht habe mittlerweile selbst der französische Präsident, François Hollande, seine strikte Ablehnung eines derartigen Zugeständnisses an die Briten aufgegeben. Bei einem Besuch der neuen britischen Premierministerin, Theresa May, in Paris am Donnerstag vergangener Woche hatte das noch anders geklungen: Da bekräftigte Hollande, dass er bei den Verhandlungen über den künftigen Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt keine Kompromisse akzeptieren wolle. „London muss sich entscheiden: im Binnenmarkt bleiben und die Personenfreizügigkeit akzeptieren oder einen anderen Status haben“, so der Präsident. Die EU-Kommission wollte den „Observer“-Bericht nicht kommentieren, ein Sprecher sprach aber von „Wunschdenken“.

Brexit-Schäden eindämmen

Die Attraktivität einer raschen Einigung für alle Seiten liegt darin, dass ein Verbleib Großbritanniens im EU-Binnenmarkt die wirtschaftlichen Schäden des Votums eindämmen könnte. 15 Prozent der EU-Exporte gehen nach Großbritannien, 45 Prozent der britischen Ausfuhren in die EU. Bei ihren Beratungen in China am Wochenende erklärten die G20, der britische Austritt aus der EU „erhöht die Unsicherheit für die Weltwirtschaft“, daher sei es erstrebenswert, dass „Großbritannien ein enger Partner Europas bleibt“.

Auch die Aussichten für die britische Wirtschaft trüben sich bereits gewaltig ein. Das Prognoseinstitut Markit berichtete zuletzt von dem „dramatischsten Vertrauenseinbruch“ seit der Finanzkrise 2008/09: Investitionen und Konsumausgaben würden verschoben oder bereits storniert. Die meisten Ökonomen halten eine Rezession bereits für unausweichlich. Der anhaltende Kursverlust des Pfunds macht Importe teurer. Als erster Produzent warnte Unilever bereits, dass man die höheren Kosten an die Kunden weitergeben werde.

Die nun offenbar diskutierte „Notbremse“ im Falle einer außerordentlichen Belastung des nationalen Arbeitsmarkts geht weit über das hinaus, was die EU-Führer dem damaligen britischen Premierminister David Cameron bei den Verhandlungen über eine Neuordnung der Beziehungen zu Brüssel im Februar zugestehen wollten. Die EU-Kommission drohte damals, eine „Notbremse“ mit einer Klage zu Fall zu bringen. Hätte die EU Camerons Forderung akzeptiert, hätte er das Referendum wohl gewonnen – und es wäre nicht zum Brexit gekommen. Nun tönt es ganz anders aus Brüssel. „Eine zeitlich befristete Regelung ist vorstellbar, schließlich hatten die anderen Staaten auch Übergangsfristen“, zitiert der „Observer“ einen Diplomaten.

Obwohl London offiziell keine Ambitionen zeigt, formelle Austrittsverhandlungen zu beginnen, und umgekehrt die EU informelle Vorverhandlungen ausschließt, verlangen allein wirtschaftliche Notwendigkeiten rasche Schritte. Dabei zeigt sich London demonstrativ zuversichtlich. „Ich habe keinen Zweifel, dass eine Vereinbarung gefunden werden kann“, meint Außenminister Boris Johnson – der sich auch optimistisch zeigt, dass die Londoner City ihre Passporting Rights – das Recht zu Euro-Transaktionen – behalten werde. „Das ist zu unser aller Vorteil“, so Johnson; London werde führendes Finanzzentrum bleiben. Für einen Abzug von Banken nach dem Brexit gebe es „keinerlei Anzeichen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2016)

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