Athen fordert von Brüssel Plan B für EU-Türkei-Abkommen

Decken und Zelte im Hafen von Piräus.
Decken und Zelte im Hafen von Piräus.APA/AFP/ANGELOS TZORTZINIS
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Er sei besorgt über die Drohung der Türkei, den Pakt fallen zu lassen, sagte Migrationsminister Mouzalas. Bereits jetzt ist die Lage für Flüchtlinge in Griechenland prekär.

Mit seiner Ankündigung läutete der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Montag die nächste Runde in der EU-Flüchtlingspolitik ein: Er warnte, das Flüchtlingsabkommen platzen zu lassen, wenn türkische Bürger nicht bis spätestens Oktober visumfrei in die EU-Staaten einreisen können. Während die EU-Spitzen betont gelassen reagierten, Bundeskanzler Christian Kern und Außenminister Sebastian Kurz Härte einen strengen Standpunkt einforderten, zeigt sich Athen alarmiert.

Die griechische Regierung hat die EU zu Planungen für den Fall aufgerufen, dass die Türkei den Flüchtlingspakt scheitern lässt. Seine Regierung sei über das von Ankara angedrohte Scheitern der Flüchtlingsvereinbarung "sehr beunruhigt", sagte Migrationsminister Yiannis Mouzalas der "Bild"-Zeitung am Mittwoch. "Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B."

Die EU müsse sich Gedanken machen für den Fall, dass die Türkei ihre Grenzen für Flüchtlinge wieder öffne, verlangte der Minister. Zugleich forderte Mouzalas die EU-Staaten zu mehr Einsatzbereitschaft bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf: "Die Flüchtlinge müssen gleich an alle EU-Staaten verteilt werden - und nicht an einzelne." Dagegen sperren sich allerdings vor allem osteuropäische Staaten. Erst am Dienstag hat der tschechische Staatschef Milos Zeman bekräftigt, die vorgeschlagenen 2700 Flüchtlinge für sein Land nicht aufzunehmen.

Schreckensszenario für Athen

Unter dem Mitte März mit der EU geschlossenen Flüchtlingsabkommen nimmt die Türkei seit April auf den griechischen Inseln ankommende Flüchtlinge zurück. Dabei wurde ein besonderer Mechanismus für die Flüchtlinge aus Syrien vereinbart: Für jeden zurückgeführten Syrer nehmen die EU-Staaten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf. Bis zu 72.000 Menschen könnten so nach Europa kommen. Seither ist die Zahl der Flüchtlinge, die übers Meer in Griechenland ankommen, stark gesunken.

Auch die Schließung der Balkanroute seit dem Frühjahr sorgte in Mittel- und Nordeuropa für weniger Ankünfte, stellte jedoch Athen vor Herausforderungen. Eine neue Migrationswelle aus der Türkei könnte die Zahl der Flüchtlinge über Nacht schlagartig erhöhen. Für Griechenland ein absolutes Schreckensszenario: Mehrere hunderttausend Migranten in einem Land, das bereits jetzt um die Unterbringung und Versorgung der Menschen ringt.

Die bisherige Zahl von rund 60.000 sei gut zu bewältigen, versicherte der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas in den vergangenen Monaten immer wieder. Dennoch kommt es regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in Flüchtlingsheimen. Migranten beklagen die schlechten Zustände in den Auffanglagern. Verzweifelte Menschen versuchen, im Fahrwerk von Lastwagen an Bord jener Fähren zu gelangen, die nach Italien übersetzen.

EU-Hilfe für Griechenland hinter Soll

Migrationsminister Mouzalas warnte bereits kurz nach dem Putschversuch in der Türkei: "Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vorfälle in der Türkei auch Auswirkungen auf die Flüchtlingssituation haben." Er wolle keine Panik schüren, sagte er im griechischen Parlament, aber man müsse sich vorbereiten. Zunächst ging es dabei vor allem um die Furcht, dass Ankara keine Kapazitäten mehr haben könnte, um die Schlepper an der türkischen Küste in Schach zu halten.

Auch in anderer Hinsicht spart Athen nicht mit Kritik an den EU-Staaten: Sie seien mit für die Misere in dem Mittelmeerstaat verantwortlich, da sie längst nicht alle zugesagten Asylfachleute und Übersetzer nach Griechenland geschickt hätten. So seien bisher lediglich 66 von 1580 zugesagten Frontex-Beamten nach Griechenland entsandt worden, nur zwei von 60 angeforderten Rücküberführungs-Experten, 92 von 475 zugesagten Asyl-Experten und 61 von 400 versprochenen Dolmetschern, berichtete die "Bild"-Zeitung am Dienstag. Die EU-Kommission hingegen betont, die Hilfe sei ausreichend - die aktuell insgesamt 632 Beamten deckten den Bedarf an Ort und Stelle.

Wer auch immer Schuld an den Verzögerungen hat, die Leidtragenden sind vor allem jene fast 10.000 Flüchtlinge und Migranten, die seit Inkrafttreten des Flüchtlingspakts im März auf den Ägäis-Inseln in zunehmend überfüllten Auffanglagern festgehalten werden, um über kurz oder lang zurück in die Türkei geschickt zu werden. Ihre Zukunft ist bei einer Aufkündigung des Pakts ebenso unsicher wie die Flüchtlingssituation und deren Bewältigung in Griechenland insgesamt.

(APA/AFP/dpa/red.)

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