Bärfuss: "Europa wiegt sich in Selbstgerechtigkeit"

Lukas Bärfuss: „Die Ressentiments wurden instrumentalisiert.“
Lukas Bärfuss: „Die Ressentiments wurden instrumentalisiert.“(c) APA/ANDREI PUNGOVSCHI
  • Drucken

Der Schweizer Schriftsteller und Dramaturg Lukas Bärfuss zu Populismus, zur Ausgrenzung als Mittel der politischen Machtausweitung und zu den Folgen einer europäischen Gesellschaft, die auf Konkurrenz ausgerichtet wurde.

Die Presse: Sie haben in einem Essay für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ geschrieben, „der Populismus wird frecher, die Anwürfe immer primitiver“. Der Populismus kann kritisiert werden. Aber sind die Orientierungslosigkeit in einer globalisierten Welt, die Reaktion auf neue Flüchtlingsströme nicht automatisch Anlässe, die Emotionen auslösen?

Lukas Bärfuss: Emotionen sind ja überhaupt nichts Schlechtes. Es fragt sich nur, welche Emotion. Und das Ressentiment, das hier durch die Straßen rennt, das ist nicht zuerst eine Emotion. Das ist in erster Linie ein politisches Mittel. Das Ressentiment wird eingesetzt, instrumentalisiert, um die eigene Macht zu vergrößern. Es ist ja nicht so, dass in der Gesellschaft dieses Ressentiment umherschwappt und die Parteien das nur kanalisieren würden. Das wird produziert, das wird hergestellt. Es gibt doch andere Formen der Debatte: Man muss sich nicht beleidigen lassen. Man muss sich nicht aufgrund seiner Herkunft herabstufen lassen. Deshalb halte ich das für eine Ausflucht, wenn gesagt wird: Es macht doch nichts, wenn einmal die Fetzen fliegen. Das hat damit nichts zu tun. Das ist ein politisches Instrumentarium, das wieder eingesetzt wird.

Sie haben in Ihrer Rede in Alpbach von den Werten der Aufklärung – Offenheit und Toleranz – gesprochen. Nicht nur in Europa mangelt es der öffentlichen Debatte an solchen Grundlagen. Sie fehlen ebenso in den Reden von Donald Trump, sie sind in einigen arabischen Ländern, beim Agieren des sogenannten Islamischen Staats gar nicht vorhanden.

Ja, das mag sein. Aber wir sollten doch die Perspektive auf Europa richten. Der Kern der europäischen Einigung war die deutsch-französische Freundschaft, war der Wille, Europa so weit zu integrieren, dass eine kriegerische Auseinandersetzung nicht mehr im Interesse der jeweiligen Nation liegt. Das hatte etwas mit der Generation zu tun, die eine solche Erfahrung noch hatte – die die Schoah, die Zerstörung erlebt hat. Die Kohäsion Europas nach 1945 war die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Wo ist das noch im heutigen politischen Diskurs?

Sie meinen, dass auch die Erfahrungen von Rassismus und Ausgrenzung nach zwei Generationen verblasst sind?

Ja, das ist auch jener Teil, der uns allergrößte Sorgen machen muss. Wenn der jüngste Krieg vergessen wird, wird der nächste vorbereitet. Es ist notwendig, die eigene Geschichte zu studieren, um solche Prozesse zu verstehen. Wir haben unsere eigene terroristische Geschichte vergessen. Das Fremde wird erneut belegt mit diesem Bösen, das offenbar immer von draußen kommt. Als Schweizer fällt es mir schwer, jemandem Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen. Wir hatten 1990 den letzten Kanton in der Schweiz, der das Frauenwahlreicht eingeführt hat. Meine Großmutter hat ihr ganzes Leben verbracht, ohne nach ihrer Meinung gefragt zu werden. Das ist nur ein Beispiel: Wenn wir heute uns in Selbstgerechtigkeit wiegen, Europa darstellen als Ort der Menschenrechte, des Friedens, der Gerechtigkeit, dann ist das einfach geschichtslos.

Sie sprechen von der Ausgrenzung der Zuwanderer. Doch selbst innerhalb Europas gibt es eine Polarisierung zwischen Ländern und ihren Bevölkerungen. Was ist mit dem Projekt des gemeinsamen Europa geschehen?

Auf der einen Seite ist da beispielsweise Großbritannien, wo es seit vielen Jahren nur einen Diskurs gibt: jenen der Konkurrenz. Das war das Modell der befreiten Märkte – jeder gegen jeden. Politiker, die mit anderen kooperieren wollen, haben deshalb ein Glaubwürdigkeitsproblem. Auf der anderen Seite ist da die Entwicklung in den Visegrád-Ländern. Was mir immer sauer aufstößt, das ist diese westeuropäische Selbstgerechtigkeit gegenüber den Menschen in diesen Ländern. Es war der Osten Europas, der sich selbst befreit hat, das war nicht Westeuropa. Wenn das aber immer wieder so dargestellt wird, ist es klar, dass keine gemeinsame Sprache, kein gemeinsames Interesse gefunden werden kann.

Sie haben rechtsnationale Parteien wegen ihres Populismus kritisiert . . .

. . . auch linksnationale.

. . . aber liegt die Schuld nicht auch bei den etablierten Parteien, die ihr Wertefundament verloren haben?

Ja, dieses totale Primat des freien Markts und der Konkurrenz war ein Fehler. Die Idee, dass wir alle in Konkurrenz zueinander stehen, das ist ihre große Ideologie gewesen. Ich glaube nicht daran. Was Volkswirtschaft erfolgreich macht, ist in erster Linie Kooperation, nicht Konkurrenz. Wenn Wohlstand geschaffen wird, dann durch Zusammenarbeit. Das Konkurrenzdenken war aber bis in die sozialdemokratischen Parteien verbreitet. Und wenn es nun darum geht, neue Modelle zu entwickeln – etwa im Umgang mit Flüchtlingen –, dann funktioniert das eben nicht. Wenn Sozialdemokraten sagen, jetzt vergesst das einmal mit der Konkurrenz, jetzt werden wieder Nächstenliebe und Solidarität verlangt, dann verstehen das viele nicht mehr.

Auch in der Europäischen Union war das Wirtschaftssystem von Beginn an auf Wettbewerb ausgerichtet, und es gab trotzdem eine gemeinsame Basis, den Binnenmarkt. Ist Wettbewerb, fairer Wettbewerb, denn unbedingt negativ?

Nein, der Wettbewerb ist nicht das Problem. Es ist die Hegemonie des Wettbewerbs. Dass es nichts anderes mehr gibt. Zwischen Sport und Politik gibt es einen großen Unterschied: Im Sport gibt es das Ziel – das Ende des Wettbewerbs. Dieses Ende gibt es in unserem System aber nicht. Wettbewerb ist etwas wunderbar Stimulierendes, aber nicht der permanente, ewige Wettbewerb, der ist unmenschlich.

Die Schweiz wird in Europa heute oft als Vorbild bei der Einbindung der Bürger durch ihre direkte Demokratie genannt . . .

Was ist an dieser Demokratie direkt? Gar nichts. Die jüngsten Volksinitiativen wie jene gegen die Masseneinwanderung waren alles andere als direkt.

Warum?

Früher war es so, dass Volksinitiativen das letzte Mittel waren. Das Volk hatte damit ein Vetorecht gegen Parlament und Regierung. Das war die Idee der Verfassungsgeber. Heute sind es aber die Parteien und sogar die Regierungsparteien selbst, die solche Abstimmungen lancieren – einfach für ihr politisches Marketing. Früher gab es einen langen Prozess, an dessen Ende ein neues Gesetz stand. Nun ist das umgekehrt. Wir schaffen Gesetze, ohne zu wissen, wie die umzusetzen sind. Wir haben deshalb schwerwiegende Probleme mit der Europäischen Union wegen solcher Initiativen. Wir haben schwerwiegende verfassungstechnische Probleme.

Wird sich die Schweiz in Europa also isolieren?

Ich bin ziemlich sicher, man trotzt, solange es eben geht. Irgendwann siegt aber der Opportunismus.

Man könnte es dann auch Rationalismus nennen . . .

Das ist meine Hoffnung.

ZUR PERSON

Lukas Bärfuss. 1971 in Thun geboren, arbeitet als Schriftsteller in Zürich. Er schreibt Romane („Hundert Tage“, 2008, „Koala“, 2014) und Theaterstücke (u. a. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, „Der Bus“, „Die Probe“). Von 2009 bis 2013 war er als Dramaturg und Autor am Schauspielhaus Zürich tätig; hier entstanden seine Stücke „Malaga“ (2010) und „Zwanzigtausend Seiten“ (2012). Seine Werke wurden unter anderem mit dem Berliner Literaturpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.