Deutscher Europa-Staatsminister: „Wir stehen der Türkei im Wort“

Der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth
Der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth (c) Katharina Fröschl-Roßboth
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Der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth argumentiert, warum Berlin an den Beitrittsverhandlungen mit Ankara festhält. Den neu entflammten Nationalismus in mehreren EU-Ländern verurteilt er als „politischen Irrsinn“.

Die Presse: Sie waren in der vergangenen Woche in der Türkei. Es gibt wegen der Aufarbeitung des Putschversuchs Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei. Ist Ankara nicht mehr bereit, Kritik aus der EU anzunehmen?

Michael Roth: Der Putschversuch war ein tiefer Einschnitt nicht nur in der Geschichte der Türkei, sondern auch in jener Europas. Es ist uns offenkundig nicht gelungen, frühzeitig ein noch stärkeres Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität auszusenden. Das ist mir von allen Gesprächspartnern – ob Regierung oder Opposition – bestätigt worden. Ein bisschen mehr Empathie wäre hilfreich gewesen. Trotzdem muss auch gesagt werden: Ein Land, das zur Europäischen Union gehören möchte, ist zur konsequenten Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet.

Ist denn überhaupt noch ein Platz für die Türkei in der Europäischen Union? Österreichs Bundeskanzler, Christian Kern, hat die Beitrittsverhandlungen als „Fiktion“ bezeichnet. Sind sie tatsächlich nur ein Mittel, um Ankara bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise bei der Stange zu halten?

Darüber streiten wir, seit wir Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führen. Ich bin von der Opposition, aber insbesondere auch von Repräsentanten der Zivilgesellschaft in der Türkei inständig darum gebeten worden, die Beitrittsverhandlungen nicht aufzukündigen. Man darf diese Verhandlungen nicht nur auf die politisch Verantwortlichen fokussieren. Die Mehrheit der Türkinnen und Türken richtet ihren Blick nach Europa und will Teil unserer europäischen Wertegemeinschaft werden. Diesen Menschen fühle ich mich verpflichtet. Am Ende wird es in den Händen der Türkei selbst liegen, ob sie die strengen Kriterien einer Mitgliedschaft erfüllen kann oder nicht. Die EU muss sich aber auch ein Stück Kritik gefallen lassen. Zu Recht wird jetzt der Finger in die Wunden gelegt – in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Medienfreiheit gibt es eben in der Türkei noch viel zu tun. Aber bislang gibt es keinen Konsens in der EU, die entsprechenden Verhandlungskapitel auch zu öffnen.

Es gibt freilich jedes Jahr einen Fortschrittsbericht zu diesen Fragen von der EU-Kommission. Im Herbst wird erneut ein sehr kritischer Bericht erwartet. Da ist zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Verhandlungen zu intensivieren, wenn es keine Fortschritte gibt.

Wir stehen im Wort, es ist ein ergebnisoffener Prozess. Und ich erhoffe mir noch immer davon, dass konkrete Verhandlungen allemal besser als nur abstrakte Gespräche sind. Verbindlichkeit ist das Entscheidende.

Ein alternativer Ansatz zur Flüchtlingskrise wäre eine gemeinschaftliche Lösung in der EU. Doch anlässlich des Besuchs der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, bei den Visegrád-Regierungschefs wurde deutlich, dass eine Bereitschaft dazu nicht ausreichend besteht. Scheitert die EU in dieser Frage?

Wir sind schon sehr weit gekommen – etwa bei der Einsicht, dass der Schutz der EU-Außengrenzen von allen getragen werden muss, nicht nur von jenen, die eine Außengrenze haben. Wenn ich sehe, wie eng wir mittlerweile zusammenarbeiten, um Menschenleben im Mittelmeer zu retten; wenn ich mir anschaue, wie weit wir gekommen sind, das Dublin-Abkommen grundlegend zu überarbeiten – da kann man nicht von Scheitern sprechen. Aber es ist richtig, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die nicht bereit sind, eine solidarische und faire Aufteilung der Flüchtlinge zu akzeptieren.

Über die Kritik am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei kann ich nur den Kopf schütteln. Dieses Abkommen liegt sowohl im Interesse der EU als auch in jenem der Türkei. Dieses Land hat bereits drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Solang die EU nicht bereit ist, noch mehr Menschen aufzunehmen, halte ich die Forderung der Türken für mehr als legitim, dass die EU dabei helfen soll, die Flüchtlinge in ihrem Land besser zu versorgen. Das ist kein schmutziger Deal. Er dient eben auch den Flüchtlingen.

Wir erleben nicht nur in der Flüchtlingsfrage eine Rückkehr zu nationalen Lösungsansätzen. Diese Tendenz wurde ja auch in der Debatte zum britischen EU-Referendum deutlich.

Es will mir nicht in den Kopf gehen, wie wir in einer globalisierten Welt mit einer Renationalisierung reüssieren wollen. Das ist ein politischer Irrsinn. Nicht zuletzt hat die Brexit-Abstimmung gezeigt, dass Nationalisten und Populisten ihre Kampagnen auf Lügen, Ängsten und Halbwahrheiten aufbauen. Dass sie aber auch nicht dazu bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. So können wir in Europa nicht zusammenarbeiten. Solidarität ist keine Einbahnstraße, jeder profitiert davon. Deutschland wird deshalb alles daransetzen, dass Europa nicht auf diese Weise vor die Hunde geht.

Die Visegrád-Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Anm.) haben bisher in der Flüchtlingsfrage diese Solidarität verweigert. Was ist in diesen Ländern geschehen? Warum sind dort nationale Kräfte so stark geworden?

Ich habe Verständnis für das eine oder andere Land, weil ich weiß: Staaten, die erst vor 25 Jahren die nationale Souveränität zurückgewonnen haben, fällt es möglicherweise schwerer, ihre Rolle im europäischen Team zu finden. Womöglich beruht diese Zurückhaltung auf einem historischen Missverständnis: Wenn wir uns in Europa stärker einbringen, dann verlieren wir nichts, sondern im Gegenteil, wir gewinnen politische Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Welt zurück.

ZUR PERSON

Michael Roth ist seit 2013 Staatsminister für europäische Angelegenheiten im deutschen Außenministerium. Der SPD-Politiker vertritt sein Land im Rat für Allgemeine Angelegenheiten in Brüssel. Er ist zudem für die Koordination der deutsch-französischen Zusammenarbeit zuständig. Zuvor war Roth Europasprecher der SPD im Bundestag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2016)

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