Gibt es Alternativen zur EU-Mitgliedschaft?

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Analyse. Großbritannien sucht nach dem Brexit eine lose Anbindung an die EU, die mehr Souveränität verspricht. Das Problem ist nur, dass die Gemeinschaft den Kontinent längst so stark dominiert, dass niemand an ihr vorbeikommt.

Sie waren nicht auf dieses Szenario vorbereitet. So absurd es klingen mag, aber Großbritanniens Regierung hatte keinen Plan für eine Brexit-Entscheidung in der Schublade. Das bestätigte Syed Kamall, der führende Tory-Abgeordnete im EU-Parlament, auf Frage der „Presse“ kurz nach dem Referendum im vergangenen Mai. Der ehemalige konservative Regierungschef, David Cameron, war davon ausgegangen, dass die Briten letztlich seiner Empfehlung, in der EU zu bleiben, zustimmen würden.

Die Fehlkalkulation betraf nicht nur das Ergebnis der Abstimmung, sondern auch dessen Folgen. Denn Großbritannien ist wirtschaftlich wie rechtlich eng in ein Netz mit den 27 anderen Mitgliedstaaten verwoben. Die Teilnahme an zahlreichen EU-Programmen, an EU-Politikfeldern und dem gemeinsamen Binnenmarkt zu beenden, ist eine verwaltungstechnische Mammutaufgabe. Großbritannien muss sich plötzlich mit einem Regelungswerk von 90.000 Seiten auseinandersetzten. Diesen Umfang hat mittlerweile die EU-Rechtsgebung. Es muss 53 Handelsverträge, die Brüssel mit Drittstaaten abgeschlossen hat, neu und selbstständig aushandeln. Es muss seine Universitäten irgendwie weiter international vernetzten, da die Forschungskooperationen im Rahmen der EU mit dem Austritt auslaufen. Es muss seine Agrarförderung umstellen, seine Regionalhilfe neu organisieren.

Die Europäische Union ist auf diesem Kontinent dominant geworden – und Großbritannien hat jahrzehntelang daran mitgewirkt. Langsam wird der britischen Regierung klar, dass sie auch künftig nicht an dieser Gemeinschaft vorbeikommen wird. Sie benötigt einen Deal.

Attraktiver Binnenmarkt

Die Gründungsidee der Gemeinschaft war es, die Nationalstaaten so weit aneinander zu binden, dass Konflikte zwischen ihnen nicht mehr möglich werden. Dieses Modell hat nicht nur die längste Phase an Frieden unter den beteiligten Ländern gebracht, sie hat auch dazu beigetragen, dass es für Einzelstaaten fast unmöglich geworden ist, einen eigenen Weg zu gehen. Selbst die Schweiz, die einen solchen Sonderweg wollte, musste einsehen, dass sie am EU-Binnenmarkt mit seinen 504 Millionen Konsumenten nicht vorbeikonnte. Ob sie mit ihren Banken Geschäfte in Europa machen wollte, ob ihre Fluglinien in den Hauptstädten der Gemeinschaft landen wollten – ohne Verträge mit der EU ging auch für die Eidgenossen nichts. Die Schweiz hat mittlerweile ein riesiges Vertragswerk mit mehreren Rahmenverträgen abgeschlossen, um sich rechtlich wie wirtschaftlich mit der EU zu arrangieren.

Die Anziehungskraft der EU hat zweifellos mit ihrer Größe zu tun. Der europäische Binnenmarkt ist der größte der Welt. Sein jährliches BIP erreicht 16.012 Mrd. Euro. Im Vergleich kommen die Asean-Länder gerade einmal auf ein jährliches Volumen von 2102 Mrd. Euro. Die USA erreichen mit 15.029 Mrd. Euro nur annähernd so viel Wirtschaftskraft wie die EU.

Ein weiterer Bonus: Der Binnenmarkt ermöglicht es Unternehmen, Lieferketten quer durch den gesamten Kontinent zu spannen, um Effizienzsteigerungen zu generieren. Ein plakatives, beileibe nicht einziges Beispiel dafür sind die deutschen Automobilhersteller mit ihren Zulieferern in Österreich und im benachbarten Osten. Für viele Unternehmen wird der Brexit zum riesigen Logistikproblem. Die japanische Regierung beispielsweise hat ihre Kollegen in London bereits gewarnt, dass Firmen aus Japan deshalb so viele Niederlassungen in Großbritannien haben, weil sie bis dato davon ausgegangen sind, von dort aus die Vorteile des EU-Marktes ausschöpfen zu können.

Die Frage, ob es Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft in der EU geben kann, ist folglich mit der Frage nach dem Schicksal des Binnenmarkts untrennbar verbunden – denn er ist das Kronjuwel der Union. Rechtsstand und politischer Konsens lauteten bisher so: keine Rechte ohne Pflichten. Wer beim Binnenmarkt mitmachen will, muss akzeptieren, dass Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen ungehindert alle Binnengrenzen queren dürfen. Doch genau der freie Verkehr von Arbeitnehmern wurde zum Stolperstein für David Cameron – die Briten stimmten für den EU-Austritt, um der Arbeitsmigration den Riegel vorzuschieben.

Wer allerdings glaubt, dabei handle es sich um ein rein britisches Problem, irrt. Auch im westeuropäischen Kernland der EU werden Stimmen lauter, die eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit fordern, um Populisten Stimmen abzujagen. Denn auch in Westeuropa möchten Teile der Bevölkerung vor der sogenannten illoyalen Konkurrenz aus Osteuropa geschützt werden – illoyal bedeutet in diesem Kontext meist billig, besser ausgebildet und motiviert.

Über Vor- und Nachteile des freien Personenverkehrs lässt sich in Akademikerzirkeln trefflich streiten, das Problem ist nur, dass dabei meist die politische Komponente außer Acht gelassen wird. Denn Druck erzeugt Gegendruck – und ehe man sich's versieht, steckt man in einer populistisch-protektionistischen Spirale. Wer im Westen Schutz für „unsere Leute“ fordert, kann nicht glaubwürdig dagegen protestieren, wenn im Osten ausländische Großunternehmen mit Sondersteuern belegt werden.
Dass die Prinzipien der EU-Mitgliedschaft nicht in Stein gemeißelt sind, steht außer Frage. Wer aber für sich nur die Vorteile in Anspruch nehmen will, geht ein hohes Risiko ein. Noch hält die institutionelle Mitte der EU. Doch die Zentrifugalkräfte werden immer stärker.

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