Anfang des Jahres will London seinen Austrittsantrag stellen, die Industrie und die Finanzwirtschaft will so rasch wie möglich Klarheit über den künftigen Weg.
London. Boris Johnson, der in der Brexit-Kampagne zu Übertreibungen und Unwahrheiten neigte, gibt sich als Außenminister und Regierungsvertreter derzeit eher bescheiden und aufrichtig: „Wir haben noch viel Arbeit vor uns, bevor wir den Antrag auf Austritt aus der EU stellen können“, sagte er am vergangenen Wochenende in einem BBC-Interview. Zunächst müsse nämlich der eigene Laden in Ordnung gebracht werden.
Die britische Regierung hadert noch immer mit der Überreichung des Austrittsantrags. Während EU-Kommission, EU-Parlament und die eigene Opposition zu einer raschen Übermittlung drängen, sieht sich das Kabinett von Premierministerin Theresa May außerstande, den gewichtigen Schritt zu setzen. Denn es fehlt auch fast vier Monate nach dem Referendum an Personal, und vor allem an einer gemeinsamen Orientierung der Regierung. Während der zuständige Brexit-Minister David Davis eine weitere Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt wegen der damit verbundenen Freizügigkeit als politisch unrealistisch erachtet, will Regierungschefin May diese Option noch nicht aufgeben.
Mit jedem Monat Verzögerung steigt allerdings auch das ökonomische Risiko. Zwar hält ein wachsender Konsum die britische Wirtschaft derzeit noch stabil, viele Unternehmen verschieben aber wegen der Unklarheit über die künftige Anbindung an den EU-Binnenmarkt ihre Investitionen. Gut drei Viertel der britischen Firmenchefs erwägen laut einer jüngsten Umfrage der Beraterfirma KPMG sogar eine Verlagerung von Geschäftsteilen ins Ausland. Insgesamt wurden 100 Geschäftsführer von Unternehmen mit Umsätzen zwischen 100 Millionen und einer Milliarde Pfund befragt.
Unsicherheit herrscht auch in der gewichtigen Finanzwirtschaft der City of London. Laut „Financial Times“ fürchtet eine große Zahl an führenden Investmentunternehmen einen Hard Brexit, also einen Austritt ohne relevantes Folgeabkommen mit den 27 verbleibenden EU-Staaten. In Bankkreisen wird kritisiert, dass sich Brexit-Befürworter wie Davis und Handelsminister Liam Fox mit einem Abschied aus dem Binnenmarkt abgefunden hätten. Der wäre für den Banken- und Finanzsektor eine Katastrophe. Für den Londoner Finanzplatz ist nämlich der sogenannte EU-Pass wichtig. Er ermöglicht britischen Banken den ungehinderten Zugang zu den Kapitalmärkten der gesamten EU. Ähnliche Befürchtungen äußerte die schottische Außenministerin, Fiona Hyslop. Auch sie warnte am Montag vor einem Hard Brexit, der letztlich auf einen reinen Handelsvertrag mit den restlichen EU-Staaten hinauslaufen würde. Sie will sich gemeinsam mit Vertretern aus Nordirland und Wales für einen Verbleib im Binnenmarkt einsetzen.
„Nicht verhandelbar“
Für die Regierung ist der Spielraum allerdings in dieser Frage klein. Die meisten EU-Regierungen, allen voran jene der osteuropäischen Staaten, nennen die fortgesetzte Freizügigkeit von Arbeitnehmern als Bedingung für eine weitere Teilnahme Großbritanniens am gemeinsamen Binnenmarkt. Eine Eindämmung der Zuwanderung aus der EU war aber eines der Versprechen der Brexit-Befürworter gewesen. Auch Premierministerin May hat sich dafür ausgesprochen, die Freizügigkeit einzuschränken.
Verbündete sind weit und breit nicht zu sehen. Vergangene Woche beschloss nun auch die größte Fraktion im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP), ihre rote Linie für die Brexit-Verhandlungen. Demnach stehen die vier EU-Binnenmarkt-Freiheiten, also der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital nicht zur Debatte. „Sie sind für uns nicht verhandelbar“, so EVP-Chef Manfred Weber.
Und noch eine Hürde wartet: Die britische Regierung will den Antrag an die EU ohne Einbindung des mehrheitlich EU-freundlichen Unterhauses abschicken. Doch sowohl unter den Brexit-Gegnern als auch unter immer mehr Abgeordneten wächst Widerstand gegen eine solche Umgehung der parlamentarischen Kontrolle. (ag./wb)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2016)