Geld statt Reispakete für Flüchtlinge

Turkey Shingal Camp 1500 Ezidi refugees The Shingal Camp close to Diyarbakir a Kurdish city in Tu
Turkey Shingal Camp 1500 Ezidi refugees The Shingal Camp close to Diyarbakir a Kurdish city in Tuimago/Pacific Press Agency
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Die EU startet in der Türkei ein neuartiges Hilfsprogramm, das Flüchtlinge selbstständiger machen soll.

Wien. Kommende Woche geht es los. Die EU begibt sich in der Flüchtlingshilfe auf Neuland und startet ein neuartiges Hilfsprogramm: weg von Sachunterstützung, hin zu monetärer Hilfe. Konkret sieht das Programm, das den sperrigen Namen „Emergency Social Safety Net“ (ESSN) trägt, vor, einer Million Flüchtlingen in der Türkei Bargeld in Form von Geldkarten zur Verfügung zu stellen, mit denen sie selbst entscheiden können, was sie einkaufen und wie sie ihren Alltagsbedarf decken.

Der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar, Christos Stylianides, sprach vom „größten humanitären EU-Hilfsprogramm aller Zeiten“ und von einer „bahnbrechenden Neuerung“, die den Menschen ein Leben in Würde ermögliche, weil sie nicht mehr von Lebensmittelhilfen abhängig seien.

Während die Meldung in manchen Webforen immer wieder kritisch beurteilt wird, äußern sich Hilfsexperten eher zustimmend. „Wir sehen das sehr positiv“, sagt die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), Ruth Schöffl, zur „Presse“. „Es bedeutet ein kleines Stück Eigenständigkeit und Selbstbestimmung für die Flüchtlinge.“

Die Menschen seien dadurch nicht mehr von den täglich gleichen Hilfsrationen abhängig, sondern könnten selbst entscheiden, ob sie etwa heute Linsen statt Reis kaufen oder andere Kaufschwerpunkte setzen wollen. Schöffl betont allerdings, dass es nur für Flüchtlinge gelte, die schon länger in Betreuung leben, und nicht für humanitäre Soforthilfe. Außerdem könne man logistisch das Konzept nicht in allen Weltregionen anwenden. Sie verweist auch darauf, dass das UNHCR das System schon seit Längerem in Camps in Jordanien erfolgreich anwende.

Im Büro des EU-Kommissars wird betont, dass das Konzept die lokale Wirtschaft stärke, weil das Geld in heimischen Geschäften oder Supermärkten ausgegeben werde. Außerdem würde das System den bürokratischen Aufwand vermindern, es könnten so Verwaltungskosten gespart werden. Und es wird betont, dass ESSN nur von einer Partnerorganisation, dem Welternährungsprogramm (WFP), durchgeführt werde, die mit dem lokalen Türkischen Halbmond zusammenarbeitet. Es fließe kein Geld in Richtung Regierung.

In der Praxis läuft dies so ab, dass unter den Flüchtlingen die am meisten Bedürftigen ausgesucht werden, die dann die Geldkarte bekommen – im Schnitt sind darauf pro Monat 100 türkische Lira, das sind 30 Euro. Bis zum Frühjahr soll eine Million Flüchtlinge eine solche Karte erhalten. Da viele nicht in Camps leben, ist die Prepaid-Karte auch für registrierte Flüchtlinge außerhalb der Lager vorgesehen. Für ESSN sind 348 Mio. Euro vorgesehen. Dieses Geld ist Teil des EU/Türkei-Abkommens.

Flüchtlinge auf das Festland?

Während die EU ihren Pakt mit der Türkei verteidigt (siehe Bericht unten), gibt es auch Kritik. Gerald Knaus, Politikberater und Chef der Denkfabrik ESI (Europäische Stabilitätsinitiative), der selbst an der Ausarbeitung des EU/Türkei-Deals maßgeblich beteiligt war, kann dem positiven Resümee der EU nicht viel abgewinnen. „Das sind Beschwichtigungen. Wenn nicht bald etwas passiert, fliegt uns das Abkommen um die Ohren.“ Er sieht die Gefahr auf den griechischen Inseln, wo immer mehr Flüchtlinge ankommen, aber trotz der EU-Vereinbarung mit Ankara nur eine geringe Zahl in die Türkei zurückgebracht wird und somit ein „Rückstau“ entsteht. Der Grund dafür liegt darin, dass die Türkei nicht als sicheres Drittland gesehen wird. „Die EU muss schleunigst mit der Türkei ein System ausarbeiten, dass es als sicheres Drittland gelten kann und Rückkehrer dort ein faires Asylverfahren bekommen“, sagt Knaus.

Tatsächlich wird die Lage auf den Inseln immer dramatischer, wie jüngste Gewaltausbrüche im Lager Moriah gezeigt haben. Jetzt hat die griechische Regierung angekündigt, Flüchtlinge aufs Festland zu bringen, wenn nicht bald etwas geschieht. Die EU hat dieses Ansinnen zurückgewiesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2016)

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