Türkei: Aufstieg einer Autokratie oder westliches Stereotyp?

Unterstützer des türkischen Präsidenten.
Unterstützer des türkischen Präsidenten. REUTERS/Osman Orsal/File Photo
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Experten sehen die Türkei nicht als Sonderfall. Auch in Europa mehrten sich die "Grauzonen zwischen illiberalen Demokratien und liberalen Autokratien".

Europa und die Türkei streiten weiter um die Deutungshoheit der Vorkommnisse rund um den gescheiterten Militärputsch Mitte Juli im Land am Bosporus. Gleichzeitig haben die europäischen Staaten ihren eigenen Populisten wenig entgegenzusetzen.

Eine Expertenrunde diskutierte am Dienstagabend im International Institute for Peace IIP in Wien über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und den Schatten, der auf die Beziehungen zu Europa fällt. Das Unverständnis auf beiden Seiten reicht tief.

Für den Türkei-Experten am Österreichischen Institut für Internationale Politik OIIP, Cengiz Günay, bildet der wachsende Autoritarismus insgesamt Anlass zur Sorge. Die Türkei sei hierbei kein Sonderfall. Auch in Europa zeigten sich "Grauzonen zwischen illiberalen Demokratien und liberalen Autokratien".

"Säuberungen" als Zeichen der Schwäche

In der Türkei hätten sich seit dem Jahr 2008 zunehmend autoritäre Tendenzen herauskristallisiert, die einher gingen mit einem Erstarken eines religiösen Konservativismus, wobei dieser nicht alle Teile der Gesellschaft erfasst habe. Kennzeichnend sei aber, dass jede Wahl vonseiten der regierenden AKP zu einer "Art Volksabstimmung, einem Referendum hochstilisiert" wurde, in denen Minderheiten keine Rolle spielten.

Der Putschversuch im Juli 2016 habe augenscheinlich gezeigt, dass das "scheinbar so starke Regime angreifbarer als erwartet" sei. Die Massenverhaftungen im Zuge der "Säuberungen" können laut Günay auch als Zeichen von Schwäche gelesen werden. Aus dem europäischen Blickwinkel werde Erdogan zum Stereotyp für Vorurteile des Westens gegenüber dem Orient.

Für EU-Beitritt nicht gut genug

Aynur Kuytu, Präsidentin des Vereins Österreichisch Türkische Zusammenarbeit ÖTZ führte ins Feld, dass die Türkei bei der Syrienkrise und der Bewältigung der Flüchtlingsströme aus dem Kriegsland ein "guter Partner" für die Europäer sei, um deren Probleme zu beseitigen. Aber für einen EU-Beitritt sei das Land "nicht gut genug".

Die über drei Millionen Kriegsflüchtlinge würden zunehmend das soziale Zusammenleben in der Türkei verändern. Dies gelte vor allem für den Südosten, wo viele Syrer in Städten wie Gaziantep, Sanliurfa oder Kilis Zuflucht gefunden hätten, erklärte Kuytu, die unter anderem auch im Rahmen von EU-Flüchtlingsprojekten tätig ist.

So sei etwa die ehemals 100.000 Einwohner zählende Grenzstadt Kilis mit dem Flüchtlingsansturm aus dem Nachbarland auf 250.000 Einwohner angewachsen. Während Europa Mauern baue, versuche die Türkei, freundschaftlich mit den Flüchtlingen umzugehen. Obwohl "das einzige, was wir mit den Syrern gemeinsam haben, der Koran ist", zitiert Kuytu den Imam der Grenzstadt Kilis.

Türken hätten mehr Empathie verdient

Die österreichische Grabungsleiterin der Weltkulturerbestätte Ephesos, Sabine Ladstätter, spricht von "traumatischen Tagen" nach dem Putsch. Ladstätter lebt und arbeitet seit 22 Jahren in der Türkei. Für die türkische Bevölkerung hätte dieser Sommer "eine andere Lebensrealität" besessen als in europäischen Medien kolportiert worden sei. Bei der Bevölkerung hätten der Putschversuch und die darauf folgenden Wochen und Monate tiefsitzende Ängste geschürt.

Die Türken hätten mehr Empathie verdient, betonte die Direktorin des österreichischen Archäologischen Instituts, auch im Sinne einer Schadensbegrenzung in den Beziehungen zu Österreich. Aufgrund des verhängten Grabungsstopps vonseiten der türkischen Regierung wurden rund hundert Mitarbeiter vor Ort entlassen. Die Situation sei "extrem bitter für uns alle", so Ladstätter.

Der langjährige ORF-Korrespondent in der Türkei, Christian Schüller, kritisierte, dass die Medien den Konflikt zwischen Österreich und der Türkei mitgeschürt hätten. Zuerst sei "ein rosiges Bild der boomenden Wirtschaft" gezeichnet worden, welches sich danach ins Gegenteil verkehrt habe. Bis ins Jahr 2013 sei die Türkei positiv besetzt gewesen und Erdogan "der Darling der westlichen Welt". Mittlerweile sei er zum "Antihelden" mutiert. Die Reaktionen auf den Putschversuch hätten in der Türkei das Gefühl erzeugt, eine laizistische Militärdiktatur wäre den Europäern lieber als ein islamistischer Erdogan.

(APA)

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