Die Ukraine hat alle Bedingungen für Visaliberalisierung erfüllt, nun sollen sich die EU-Mitglieder spätestens bis Jahresende über eine Visa-Notbremse einigen.
Brüssel. Was türkischen Staatsbürgern verwehrt bleiben wird, sofern nicht noch ein Wunder geschieht, sollte Anfang 2017 für die Ukrainer in Erfüllung gehen – die Rede ist von visafreien Reisen in die EU. Bei einem Treffen mit dem ukrainischen Staatspräsidenten, Petro Poroschenko, in Brüssel am gestrigen Donnerstag legten die Spitzen der EU ihren Zeitplan dar: „Das Problem wird bis Jahresende gelöst sein“, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Abschluss des (bereits 18.) EU-Ukraine-Gipfels. Denselben Zeithorizont hat auch Donald Tusk: Beim kommenden EU-Gipfel am 15./16. Dezember werde man sich um eine Lösung bemühen, kündigte der Ratspräsident an.
Das von Kommissionschef Juncker angesprochene Problem: Derzeit gibt es zwischen den EU-Institutionen und dem Mitgliedstaaten der Union noch keine Einigung über die Visaliberalisierung. Aus der Sicht der Brüsseler Behörde ist die Angelegenheit seit dem vergangenen April klar: Die Ukraine erfüllt alle 72 Punkte des Anforderungskatalogs für die Befreiung von der Visapflicht. Auch das Europaparlament ist nach Auskunft seines Noch-Präsidenten, Martin Schulz (der SPD-Mann wechselt mit Jahresbeginn in die deutsche Bundespolitik), „startklar“, die Verzögerungen gingen auf das Konto der Mitgliedstaaten.
Zwei statt sechs Monate
Dass die Visapflicht noch nicht aufgehoben wurde, hat mit einer im Mai von der Kommission vorgeschlagenen Novelle der entsprechenden Bestimmungen zu tun. Unter dem Eindruck des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei und der zum damaligen Zeitpunkt in greifbare Nähe gerückten Aufhebung der Visapflicht für Türken wollte die EU sicherstellen, dass die Liberalisierung nicht zu einem sprunghaften Anstieg von Asylanträgen und irregulärer Einwanderung aus der Türkei führt. Der Entwurf der Novelle sieht demnach vor, dass die Frist für die Wiedereinführung der Visapflicht im Fall eines deutlichen Anstiegs der Zahl nicht willkommener Neuankömmlinge gesenkt wird – und zwar von sechs auf zwei Monate. Derzeit verhandeln Rat und Europaparlament über die Notbremse, aus der Perspektive der EU kann die Visaliberalisierung für die Ukraine erst dann kommen, wenn die Fristverkürzung in Kraft getreten ist.
Woran hakt es? Ukrainische Medien machen die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Frankreich für die Verzögerung verantwortlich – demnach wolle Paris die Einreisebestimmungen nicht vor dem Votum im April und Mai 2017 lockern, um Marine Le Pen, der Kandidatin des rechtspopulistischen Front National, keine Wahlkampfmunition zu liefern. Ratspräsident Tusk wich gestern Fragen nach der französischen Blockadehaltung geschickt aus: Paris sei mit Sicherheit nicht daran interessiert, den Demokratisierungsprozess in der Ukraine zu blockieren, außerdem habe sich die französische Regierung zuletzt „sehr konstruktiv“ verhalten.
Abseits der Visaliberalisierung gibt es Ärger auch an einer anderen Front: beim geplanten Assoziierungs- und Freihandelsabkommen EU-Ukraine, das bereits von 27 Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Einzig die Niederländer haben noch nicht zugestimmt – weil die Wähler zu Jahresbeginn in einem Referendum das Abkommen abgelehnt haben. Das Votum ist zwar nicht bindend, doch nachdem in den Niederlanden im kommenden März gewählt wird und die rechtspopulistische Freiheitspartei sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den regierenden Rechtsliberalen liefert, will Premier Marc Rutte das Referendumsergebnis nicht ignorieren.
Einen Ausweg aus dem Dilemma könnte ein „Beipackzettel“ nach dem Vorbild der Zusatzerklärung zum Handelsabkommen EU/Kanada bieten, in dem festgehalten wird, dass die Niederländer nicht zur militärischen Kooperation mit der Ukraine gezwungen werden und die EU keine Transferzahlungen nach Kiew leisten wird. „Wir arbeiten an einer Lösung, die den Niederlanden die Ratifizierung des Abkommens mit der Ukraine ermöglichen wird“, sagte Ratspräsident Tusk gestern. Der Ukraine-„Beipackzettel“ dürfte also aller Voraussicht nach auf der Agenda des Dezembergipfels in Brüssel stehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2016)