Nach dem Votum des EU-Parlaments für ein Einfrieren der Beitrittsgespräche mit der Türkei droht Ankara mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge.
Nach dem Votum des EU-Parlaments für ein Einfrieren der Beitrittsgespräche mit der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdogan Brüssel gedroht: "Hören Sie mir zu. Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das", sagte Erdogan am Freitag in einer Rede in Istanbul. "Weder ich noch meine Bevölkerung wird von diesen Drohungen beeinträchtigt werden."
Brüssel und Ankara hatten im März ein Abkommen geschlossen, um die Flüchtlingsbewegung Richtung Europa einzudämmen. Nach der Vereinbarung machten sich deutlich weniger Menschen auf den gefährlichen Weg aus der Türkei über die Ägäis, um auf diese Weise die griechischen Inseln und damit die EU zu erreichen.
Der im März geschlossene Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU sieht unter anderem vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug hat die EU zugesagt, nach Erfüllung von 72 Voraussetzungen die Visumpflicht für türkische Staatsbürger aufzuheben.
Bereits am Donnerstag warnte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim Europa indirekt vor der Aufkündigung des Flüchtlingspakts. "Wir sind einer der Faktoren, die Europa beschützen. Wenn Flüchtlinge durchkommen, werden sie Europa überfluten und übernehmen. Die Türkei verhindert dies." Ein Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche würde Europa deutlich stärker schaden als der Türkei.
Starkes politisches Signal
Das EU-Parlament hatte zuvor nach langen Diskussionen mit breiter Mehrheit dafür gestimmt, die Beitrittsgespräche mit Ankara vorerst auf Eis zu legen. Die Resolution ist für die EU-Kommission und EU-Mitgliedsländer allerdings nicht bindend. Ein starkes politisches Signal ist sie allemal: Es ist das erste Mal, dass sich eine EU-Institution für einen Stopp der EU-Annäherung der Türkei ausspricht. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini warnte zuletzt, mit einem Aussetzen der Gespräche würden alle Chancen auf eine bessere Zusammenarbeit verloren gehen.
Ankara habe seit dem Putschversuch im Juli "unverhältnismäßige" Repressionen ergriffen, verurteilten die EU-Parlamentarier die Verhaftungswellen und Massensuspendierungen. Für eine Wiederaufnahme der Beitrittsgespräche müsste die türkische Regierung den nach dem gescheiterten Staatsstreich verhängten Ausnahmezustand aufheben sowie den Weg zurück zur Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte finden.
Außenminister Sebastian Kurz wies die Drohungen Erdogans zurück: "Europa darf sich nicht erpressen lassen und muss eigenständig seine Grenze schützen", erklärte Kurz in einer Aussendung. Wer sich nur auf den Flüchtlings-Deal verlasse, werde bald selbst verlassen sein. Es wäre falsch von der EU-Spitze, "wenn sie die klare Stellungnahme des EU-Parlaments gegen die gedankenlose Fortsetzung der Beitrittsgespräche wegen solcher Drohungen ignorieren würde", so der Außenminister.
Türkei-Experte: Resolution zeigt Ohnmacht Brüssels
Der Türkei-Experte Gerald Knaus wertete das Votum des EU-Parlaments als Zeichen der Ohnmacht Brüssels. "Die Vorstellung, dass man die Türkei mit solchen Signalen dazu zwingen kann, den Kurs zu ändern, ist utopisch", sagte der Direktor der Europäischen Stabilitäts-Initiative (ESI) in der Nacht auf Freitag in der "ZiB24".
In den vergangenen sechs Jahren seien drei Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet worden, sagte Knaus. "Wenn die EU sagt, wir suspendieren das Öffnen von Kapiteln, dann ist das kein großer Schock für die Türken." Außerdem betreffe die Resolution nicht die Vorbeitrittshilfen für die Türkei und die jährlichen Fortschrittsberichte, bei denen es keine Veränderung gebe. "Der Berg hat hier eine Maus geboren."
Der als Vater des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals geltende Politikexperte betonte, dass es in dem jetzigen Konflikt für beide Seiten nicht so leicht sei, "zu eskalieren". "Beide Seiten können der anderen Seite nur schaden, wenn sie sich selbst schaden", sagte Knaus. Er strich die Bedeutung der EU-Annäherung für jenes Lager hervor, das weiter auf eine demokratische Türkei hoffe. Das Land habe nämlich seine "besten Jahre" gehabt, als es sich an der EU orientierte. Diese Menschen hoffen, "dass irgendein Faden in diesen Beziehungen erhalten bleibt".
(Reuters/red.)