Wie ernst sind Erdoğans Drohungen zu nehmen?

Flüchtlingswelle erreicht steirische Grenze, Spielfeld, Herbst 2015 Spielfelsd,
Flüchtlingswelle erreicht steirische Grenze, Spielfeld, Herbst 2015 Spielfelsd, apa
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Flüchtlingskrise: Sollten die Türken den Flüchtlingspakt kündigen, ist voraussichtlich kein neuer Massenansturm zu erwarten. In der Zwischenzeit stärkt Europa seine Außengrenzen.

Zwischen der Türkei und Europa herrscht Krisenstimmung. Auslöser ist eine Resolution des Europaparlaments, in der angesichts von Ankaras Repressionsmaßnahmen das Einfrieren der Beitrittsgespräche gefordert wird. Die – nicht bindende – Resolution fand am Donnerstag in Straßburg eine deutliche Mehrheit. Als Reaktion darauf drohte der türkische Staatschef Erdoğan mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge Richtung Europa. „Wenn Sie noch weitergehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das", sagte Erdoğan in einer Rede in Istanbul an die Adresse der EU.


Erdoğan spielt offen mit der Kündigung des im März abgeschlossenen EU-Türkei-Flüchtlingspakts. Dieser wurde im März abgeschlossen und sieht einen Tauschhandel vor: Die EU darf seither alle illegal in die EU (vor allem nach Griechenland) gekommenen Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken. Für jeden zurückgeschickten Syrer darf im Gegenzug ein anderer Syrer aus der Türkei legal in die EU einreisen.

Da geht's dann übrigens nach Europa, Freunde!
Da geht's dann übrigens nach Europa, Freunde!(c) APA/AFP

Wie ernst sind die Drohungen tatsächlich zu nehmen? Was würde eine Paktaufkündigung bedeuten?

Was hat der EU-Türkei-Pakt gebracht? Seit März ist die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Europa gekommen sind, tatsächlich drastisch zurückgegangen: Von 1400 im März auf derzeit weniger als 200 pro Tag. Experten glauben jedoch, dass die vorausgegangene Schließung der Westbalkanroute mit ein Grund dafür war. Das Abkommen per se hat bisher wenig gebracht. Lediglich 720 Menschen wurden im Zuge dieses Pakts in die Türkei zurückgebracht. Es war offenbar mehr die abschreckende Wirkung des Abkommens, die viele von einer Flucht über das Meer abhielt.

Würde der Flüchtlingsstrom ansteigen? Eine Aufkündigung des Pakts würde sicher einen Anstieg der Flüchtlingszahlen bedeuten, der sich jedoch in Grenzen halten würde. Dafür gibt es mehrere Gründe: Potenzielle Flüchtlinge wissen, dass sie auch nach einem Pakt-Ende keine offenen Grenzen und damit freie Bahn nach Westeuropa hätten, so wie 2015. Das heißt, die meisten würden nach der Ankunft in Griechenland festsitzen und auf Asylverfahren warten. Natürlich wird es weiterhin Angebote von Schleppern geben, doch die Routen Richtung Norden werden komplizierter und damit auch teurer, was sich immer weniger leisten können. Zudem haben die Flüchtlinge jetzt mehr Arbeitsmöglichkeiten in der Türkei, was etwa viele Syrer dazu bewegt, in der Nähe ihres Landes zu bleiben.

Was hat Ankara von der Aufkündigung? Wenig. Die Drohungen dürfen im Moment noch Rhetorik sein, werden bei vielen Türken gern gehört und als Signal der Stärke interpretiert. Faktisch hat die Türkei aber einiges zu verlieren. Etwa zwei Milliarden Euro, die aus dem EU-Türkei-Deal noch offen sind, zusätzlich zu anderen finanziellen Unterstützungen aus der EU.

Haben die Europäer einen Plan B? Brüssel setzt offiziell weiterhin darauf, dass es nur Drohungen Erdoğans sind. An Alternativen gibt es bisher nur einen besseren Schutz der Außengrenzen: Die Grenzschutzagentur Frontex wird ausgebaut, sie hat ab 7. Dezember einen Pool von 1500 zusätzlichen Kräften für spontane Einsätze zur Verfügung. Der verstärkte Schutz der Außengrenzen wird vor allem von Österreich gefordert.

Verteidigungsminister Doskozil meinte vor Kurzem, dass man sich massiv auf das Ende des EU-Türkei-Deals vorbereiten müsse. Und auch Außenminister Kurz hat auf die Erdoğan-Drohungen reagiert: „Europa darf sich nicht erpressen lassen und muss eigenständig seine Grenze schützen." Wer sich nur auf den Flüchtlingsdeal verlasse, werde bald selbst verlassen sein, so Kurz.

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