Kosmopolit und Vordenker für ein geeintes Europa

Richard Coudenhove-Kalergi. Der Gründer der Paneuropa-Union appellierte schon 1922 an die europäischen Staaten, ihr nationalstaatliches Denken zu überwinden und sich zusammenzuschließen.

Wien. Am 17. November 1922 erschien in der „Neuen Freien Presse“ ein langer Artikel mit dem Titel „Paneuropa – ein Vorschlag“. Der Autor, R. N. Coudenhove-Kalergi, warnte darin angesichts einer durch den Krieg veränderten Welt, dass Europas Einfluss geschwunden sei und dass es angesichts russischer Hegemoniebestrebungen für die Europäer wichtig sei, sich zusammenzuschließen – zu Paneuropa. Es war dies der erste große Aufruf von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi für ein vereintes Europa, und der Artikel erregte internationales Aufsehen. Im Jahr darauf erläuterte er in seinem Buch „Pan-Europa“ ausführlich die Ideen und galt fortan als „der“ Vorvater der europäischen Einigung.

Das Denken über nationale Grenzen hinweg war Graf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi schon in die Wiege gelegt. Er wurde 1894 in Tokio geboren. Sein Vater, Heinrich, war dort österreichisch-ungarischer Geschäftsträger, als er die junge Japanerin Mitsuko Aoyama kennenlernte und sie heiratete. Als der Sohn ein Jahr alt war, übersiedelten sie in das elterliche Schloss Ronsperg in Westböhmen, nahe der deutschen Grenze. Dort schuf der aus dem diplomatischen Dienst ausgeschiedene Heinrich, der 16 Sprachen beherrschte, eine Sphäre der Internationalität: Richard wurde in mehreren Sprachen unterrichtet, auf dem Schloss verkehrten englische und französische Gouvernanten, russische und albanische Lehrer, indische Gelehrte und tschechische Angestellte. Zugleich wurde durch den regen Kontakt mit Vertretern des Judentums, Buddhismus und Katholizismus religiöse Offenheit vorgelebt.

Nach dem frühen Tod des Vaters ging Coudenhove-Kalergi (dessen Nichte übrigens die renommierte Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi ist) nach Wien auf die Diplomatische Akademie, studierte Philosophie und heiratete die Schauspielerin Ida Roland. Nach dem Krieg engagierte er sich zunehmend in der Politik, nahm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an und trat in eine Wiener Freimaurerloge ein.

Der Krieg hatte sein Leben stark geprägt. „Den Ersten Weltkrieg empfand ich als Bürgerkrieg zwischen Europäern: als Katastrophe erster Ordnung“, schrieb er später. Und er war völlig enttäuscht, dass nach 1919 „Europa uneiniger denn je seit den Tagen der Völkerwanderung“ war.

Mit seinem 1923 publizierten Buch machte sich der damals erst 29-Jährige endgültig zum führenden Europäer, der für den zerstrittenen Kontinent nur eine Überlebensstrategie sah: „Die europäische Frage wird erst gelöst werden durch einen Zusammenschluss seiner Völker.“ Seine Idee, die Nationalismen zu überwinden und sich zusammenzutun, fand bald großen Anklang unter Intellektuellen, u. a. bei den Schriftstellern Stefan Zweig, Thomas Mann, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, aber auch bei Sigmund Freud und bei Ernst Benedikt, dem Herausgeber der „Neuen Freien Presse“. 1924 gründete Coudenhove-Kalergi dann die Paneuropa-Union, die älteste europäische Einigungsbewegung. Die österreichische Regierung stellte Räume in der Wiener Hofburg zur Verfügung, die Anhängerschaft in Österreich und Deutschland wuchs. Wissenschaftler wie Albert Einstein sowie Politiker wie Konrad Adenauer und Frankreichs Außenminister, Aristide Briand, gehörten wie viele andere Prominente der Bewegung an.

Neben den Bemühungen für eine Einheit Europas, der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland wandte sich die Paneuropa-Union schon früh gegen den stärker werdenden Nationalsozialismus unter Hitler und gegen den aufkeimenden Antisemitismus. 1933 verbot das NS-Regime die Schriften und Bücher Coudenhove-Kalergis. Und 1938, nach dem Anschluss Österreichs, musste der Paneuropa-Chef mit seiner jüdischen Frau flüchten: Zuerst nach Frankreich, wo er die französische Staatsbürgerschaft annahm, und später in die USA.

Nach dem Krieg versuchte Coudenhove-Kalergi durch seine Kontakte zu hochrangigen Politikern die Ideen zur Einigung Europas voranzubringen und schrieb unter anderem eine Rede für Winston Churchill. Tenor: die Vereinigten Staaten von Europa auf Basis einer deutsch-französischen Partnerschaft. 1947 gründete er die EPU, die Europäische Parlamentarier-Union, die die Abgeordneten der europäischen Länder in einer Europa-Versammlung zusammenführen sollte. Die EPU scheiterte schließlich, und 1952 wurde die Paneuropa-Union neu gegründet.

In den Sechzigerjahren zog sich Coudenhove-Kalergi nach und nach von seinen Ämtern zurück und bestimmte Otto Habsburg, bisher Vizepräsident, zum neuen Präsidenten der Paneuropa-Union. 1974 starb der große Europäer in Schruns in Vorarlberg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.