Als die Umrisse der EU zum ersten Mal sichtbar wurden

Rückblick. Die Weichen für das heutige Europa wurden bereits im Mittelalter gestellt. Die Ahnväter waren Kaiser und Kardinäle ebenso wie Pilger und fahrende Tuchhändler.

Brüssel. Einmal im Jahr versammeln sich im Rathaus von Aachen die Würdenträger der Europapolitik, um die Verleihung des Karlspreises zu zelebrieren. Bereits seit 1950 werden in der Stadt nahe der belgischen und niederländischen Grenze Personen gewürdigt, die sich um die europäische Integration verdient gemacht haben – zum Kreis der Preisträger zählen unter anderem Jean Monnet (1953), Winston Churchill (1955), Henry Kissinger (1987) und Franz Vranitzky (1995), heuer erhielt Papst Franziskus den Ehrenpreis für seinen Einsatz für Toleranz und Solidarität, wie es in der Begründung des Karlspreis-Direktoriums heißt.

Die alljährliche Pilgerfahrt nach Aachen ist eine europapolitische Tradition mit tiefen historischen Wurzeln. Denn Aachen ist die letzte Ruhestätte von Karl dem Großen, Namensgeber der Auszeichnung. Dem König der Franken, auch als Charlemagne und Carolus Magnus bekannt, wurde am ersten Weihnachtstag im Jahr 800 in Rom von Papst Leo III. die römisch-deutsche Kaiserwürde verliehen. Karl trat somit in die Fußstapfen der Kaiser des Imperium Romanum – mit dem impliziten Anspruch auf die Herrschaft über das Abendland. Das große Reich, das der erste römisch-deutsche Kaiser geschaffen hatte, hielt nicht lang und zerfiel nach seinem Tod in einen östlichen und einen westlichen Teil – die Keimzellen Frankreichs und Deutschlands.

Dass Karl eine bedeutende historische Gestalt ist, bleibt unbestritten. Doch ist er auch der Ahnvater des europäischen Integrationsprozesses der Nachkriegszeit, als den ihn die Stifter des Karlspreises gesehen haben? Historiker sind sich diesbezüglich nicht ganz sicher. Der französische Mediävist Jacques Le Goff hielt seine Amtszeit für „das erste Beispiel für ein fehlgeleitetes Europa“. Karl der Große habe demnach versucht, ein Europa unter der Herrschaft eines Volkes zu bauen. „Das Europa Karls V., das Europa Napoleons und das Europa Hitlers waren de facto antieuropäisch, und in den Bestrebungen Karls des Großen ist bereits etwas von diesen Plänen angelegt, die dem wahren Europagedanken widerstreben“, schrieb Le Goff in seinem 2003 veröffentlichten Essay „Die Geburt Europas im Mittelalter“.

Identitätsstiftende Religion

Im Vergleich zur heutigen EU, die ihre Kraft aus der Vielfalt ihrer Mitglieder schöpft, auf Ausgleich und gemeinsame Entwicklung bedacht ist und deren Raison d'être die Verhinderung von Kriegen ist, wirkt Karls Frankenreich in der Tat nicht sonderlich vorbildhaft. Dass Charlemagne trotzdem als „Vater Europas“ gilt, hat aber durchaus berechtigte Gründe – und das nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er über Jahrhunderte als das Idealbild eines gerechten Herrschers galt, der sich um die Anliegen all seiner Untertanen kümmerte. Während Karls Herrschaft im Speziellen und im Lauf des Mittelalters im Allgemeinen wurden nämlich die Fundamente für das europäische Selbstverständnis gelegt.

Apropos Selbstverständnis: Zu Karls Zeiten war es alles andere als selbstverständlich, sich als Europäer zu begreifen. Doch anders als in der römischen Antike, als klar zwischen dem Civis Romanus und dem Barbaren unterschieden wurde, gab es im Mittelalter ein identitätsstiftendes Element: den Glauben. Die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche war eine Klammer, die einerseits die europäischen Völker zusammenhielt und andererseits Europa nach außen abgrenzte – gegen die Muslime im Süden, die (noch) heidnischen Slawen und Wikinger im Osten und Norden – und zusehends gegen das Byzantinische Reich im Südosten, wobei der endgültige Glaubensbruch mit Ostrom, das Große Schisma, erst im 11. Jahrhundert stattfand. Als die abendländische Glaubenseinheit im Lauf des Mittelalters Sprünge bekam, wurde die europäische Identität zunehmend wichtiger.

Spätestens mit Martin Luthers Reformation und der gewaltsamen Spaltung in eine römisch-katholische und eine protestantische Kirche war diese Klammer hinfällig. Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, der einen Schlussstrich unter die erste Runde der Glaubenskriege zog, wurde das Prinzip „Cuius regio, eius religio“ etabliert – die Festsetzung der Religion sollte fortan Sache des Herrschers sein. Im Frankreich von Ludwig XIV. lautete dieses Prinzip gut einhundert Jahre später folgendermaßen: „Un roi, une loi, une foi“ – ein König, ein Gesetz, ein Glaube.

Doch zurück ins frühe Mittelalter: Dass Karl der Große so bedeutsam erscheint, hat auch damit zu tun, dass er als Erster versucht hat, die Gesetze in den von ihm beherrschten Landstrichen zu vereinheitlichen und für alle Bewohner gelten zu lassen. Auch in puncto Währung versuchte Karl, ein Mindestmaß an Harmonisierung herzustellen – insofern kann man ihn durchaus als den Schutzheiligen des Euro und der EU-Verträge betrachten.

Exakt tausend Jahre später schlüpfte übrigens Napoleon Bonaparte in Charlemagnes Schuhe: Mit seinen europäischen Feldzügen sorgte der Korse für die Verbreitung des Code Napoléon, des für damalige Verhältnisse sehr fortschrittlichen französischen Gesetzbuchs, in Europa. Als die Befürworter des britischen EU-Austritts im Frühjahr 2016 für den Brexit mobilmachten, begründeten sie ihren Austrittswunsch auch damit, dass Kontinentaleuropa aufgrund des Code Napoléon über eine andere Rechtstradition verfüge als Großbritannien mit seinem auf Präzedenzfällen basierenden Common Law. In diesem Fall erwies sich das Recht als Spaltpilz.

Mittelalterliche Reiselust

Abseits des Rechts gab es im Mittelalter noch mindestens drei weitere identitätsstiftende Faktoren. Eine damals weit verbreitete Praxis, die an das heutige Interrail erinnert, waren Pilgerfahrten zu heiligen Stätten: nach Jerusalem, Rom, Santiago di Compostela oder zu anderen, regional bedeutsamen Orten. Eines der literarischen Meisterwerke des Spätmittelalters, Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“, handelt von Pilgern auf dem Weg zur Grabstätte von Thomas Beckett in Canterbury, die sich die Reisezeit mit Geschichtenerzählen vertreiben.

Identitätsstiftend war auch die Tatsache, dass es mit Priestern, Denkern und Aristokraten erstmals so etwas wie eine europäische Elite gab, die sich gemeinsamen Prinzipien verpflichtet fühlte: den kirchlichen Lehren im Fall der Gottesdiener, den ritterlichen Idealen und höfischen Sitten im Fall der Adeligen, und dem grenzüberschreitenden Gedankenaustausch bei den Intellektuellen. Die berufliche Laufbahn von Nikolaus Kopernikus ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel: Der Astronom, 1473 geboren, ging zunächst in seiner Heimatstadt Toruń im heutigen Polen zur Schule, studierte anschließend in Krakau, Bologna, Padua und Ferrara und kehrte schlussendlich an die Ostseeküste zurück, wo er bis zu seinem Tod als Arzt und Verwalter tätig war und die Bahnen der Himmelskörper erforschte.

Apropos Ostsee: Der Kerngedanke der heutigen EU – der gemeinsame Markt als friedensstiftendes Element – hatte auch im Mittelalter einen Vorläufer: die Hanse. Der Zusammenschluss mittelalterlicher Kaufleute (auf ihrem Höhepunkt zählte die Hanse europaweit gut 300 Städte zu ihren Mitgliedern) markierte den Moment, an dem in Europa die wirtschaftlichen Akteure ein eigenes Bewusstsein entwickelten und Einfluss auf die Politik nahmen. Von einem Binnenmarkt konnte damals natürlich noch keine Rede sein, doch Handelsbünde (die es nicht nur in Ostdeutschland gab, sondern beispielsweise auch in Flandern und Italien) zeigten erstmals, welch normative Kraft die Wirtschaft entfalten kann.

Und damit wären wir in der Neuzeit angekommen. Der EU-Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten ist der gemeinsame Nenner der Unionsmitglieder. So wie die mittelalterlichen Kaufleute im hansischen Kontor oder bei den regelmäßig stattfindenden Champagnemessen lernten, dass ehrliche Kooperation für alle Beteiligten Vorteile bringt, so war die Geschichte der europäischen Marktintegration ein Lernprozess, im Lauf dessen einst verfeindete Nationen sozusagen domestiziert wurden.

Dafür, dass es so weit kommen konnte, hatte Karl der Große als Rechtsgeber gesorgt. Doch das heutige Europa hat viele Väter – Kaiser und Kardinäle ebenso wie fahrende Tuchhändler, Gewürzkaufleute, fromme Pilger und wissensdurstige Studenten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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