Großbritannien: „Eine Katastrophe für das Land“

Tony Blair hält es für möglich, dass sich der „Wille von Wählern ändert“, die für einen Brexit gestimmt haben.
Tony Blair hält es für möglich, dass sich der „Wille von Wählern ändert“, die für einen Brexit gestimmt haben.(c) REUTERS (NEIL HALL)
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In der hitzigen Brexit-Debatte feiern die Ex-Regierungspolitiker Blair, Major und Clegg ein ungeahntes Comeback. Sie sprechen aus, was viele Briten denken und fürchten.

London. Der eine führte sein Land in das Debakel des Irak-Kriegs. Der andere verlor am Black Wednesday die Kontrolle über die Volkswirtschaft des Landes. Und der dritte brachte seine Partei in einer ungeliebten Koalition an den Rand der Auslöschung. Aber mit der Zuspitzung der Debatte, wie Großbritannien den Austritt aus der EU tatsächlich bewältigen kann, feiern die ehemaligen Premierminister Tony Blair und John Major sowie der frühere Vizepremier Nick Clegg ein überraschendes Comeback.

Angesichts der Radikalität und Intoleranz der „Brextremisten“, die mit wachsender Ungeduld einen harten Bruch mit der EU fordern, konnten sich die drei politischen Haudegen zuletzt als Stimmen der Warnung, der Mäßigung und der Vernunft profilieren. Wenn der Brexit die Rebellion der schweigenden Mehrheit (von 52 %) war, bringen heute der Labour-Mann Blair, der Konservative Major und der Liberale Clegg zum Ausdruck, was die schweigende Minderheit (von 48 %) der Briten denkt.

So zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Rücktritt des britischen EU-Botschafters Ivan Rogers, der in seinem Abschiedsschreiben vor „benebeltem Denken“ aufseiten der Regierung warnte. Der Rechtspopulist Nigel Farage, einer der Brexit-Führer, rief darauf gleich zur Säuberung des Außenministeriums auf: „Ich hoffe, Sir Ivan ist der Erste von vielen, die noch gehen werden.“ Dagegen warnte Ex-Vizepremier Clegg (2010–2015): „Man kann noch so hysterisch darauf bestehen, dass die Welt eine Scheibe ist. Aber egal, wie viele Menschen man dafür verdammt, dass sie die Wahrheit sagen: Der Brexit ist kompliziert, er wird Zeit kosten und nicht nur zu unserem Vorteil enden.“

Das befürchten auch immer mehr Briten. Nach einer aktuellen Umfrage rechnen nur mehr 22 Prozent mit einem guten Verhandlungsergebnis, während 42 Prozent einen „bad deal“ erwarten. In dem aufgeheizten Meinungsklima, in dem Richter in Zeitungsschlagzeilen – von der Regierung unwidersprochen – als „Volksfeinde“ diffamiert werden, werden auch warnende Stimmen allerdings immer öfter beschimpft und ausgegrenzt. Die Tageszeitung „Daily Mail“, eines der Zentralorgane des Brexit-Lagers, bezeichnete Rogers gestern als „arroganten Vertreiber von Trübsinn“.

Referendum über Ergebnis

Gegen derartige Stimmungsmache spricht sich Ex-Premier Major (1990–1997) vehement aus. Er setzt sich nicht nur für ein Mitspracherecht des Parlaments beim Brexit ein. Nach seiner Ansicht sei auch der Vorschlag „absolut legitim, über das Ergebnis der Verhandlungen eine zweite Volksabstimmung abzuhalten“. Insbesondere für seine Warnung vor einer „Tyrannei der Mehrheit“ erntete er viel Kritik. Major hält aber dagegen, dass „auch die Position der 48 Prozent, die gegen den Brexit gestimmt haben, berücksichtigt werden muss“.

Dies ist auch die Haltung seines Nachfolgers, Blair (1997–2007): „Die Frage ist nicht, ob wir den Willen der Wähler ignorieren, sondern, ob sich der Wille der Wähler ändert, wenn neue Informationen bekannt werden, und Behauptungen durch Tatsachen ersetzt werden“, schrieb er. In Widerspruch zur eintönigen Regierungslinie „Brexit heißt Brexit“ fordert er: „Wir haben ein Recht dazu, nachzudenken, zu überzeugen und Argumente vorzubringen und nicht gezwungen zu werden, eine Entscheidung zu unterstützen, die wir ehrlich für eine Katastrophe für das Land, das wir lieben, halten.“

Die Tatsache, dass Blair mit Jahresende sein Beratungsunternehmen geschlossen hat, hat zu Spekulationen geführt, dass er ein politisches Comeback plane. Unter der gegenwärtigen Labour-Führung des EU-Skeptikers Jeremy Corbyn ist eine Rückkehr in die Fraktion zwar ausgeschlossen. Aber sowohl an der Basis als auch über Parteigrenzen hinweg wachsen dieser Tage „progressive Allianzen“. Wer in Westminister mit wem speist, stellt Schnitzlers „Reigen“ locker in den Schatten.

Mit dem Nachwahlsieg in Richmond feierten die Pro-Europäer zuletzt einen ersten Achtungserfolg: Ein sicheres Mandat der Konservativen wurde von den Liberalen gewonnen. Clegg jubelte: „Das könnte ein Wendepunkt sein!“ So weit ist es nicht. Aber klar ist: Die Kräfte gegen einen harten Brexit formieren sich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2017)

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