Europaparlament: Die neue Lust an der Macht

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Das EU-Parlament nutzt neue Kompetenzen bei Datenschutz, Handel und Außenpolitik. Der EU-Reformvertrag von Lissabon hat das Parlament in fast allen Gesetzgebungsbereichen gegenüber den Regierungen gleichberechtigt.

STRASSBURG. Monat für Monat veranstalten die Europaabgeordneten in ihrem futuristischen Straßburger Plenarsaal eine Aufführung, die spitze Zungen als kollektiven Anfall von „Resolutionitis“ bezeichnen. Von der Inhaftierung chinesischer Dissidenten über die Abschaffung aller Atomwaffen bis zur Einführung einer Spekulationssteuer reicht die Palette der Themen, die per Resolution verurteilt, begrüßt oder gefordert werden. Hehre Worte, die meist nicht das Papier wert waren, auf dem sie in die 23 Amtssprachen der Union übersetzt wurden.

Seit knapp 100 Tagen ist das anders. Der EU-Reformvertrag von Lissabon hat das Parlament in fast allen Gesetzgebungsbereichen gegenüber den Regierungen gleichberechtigt. Kommission und Rat müssen Befindlichkeiten der Parlamentarier seither ernst nehmen, sonst droht die Blockade wichtiger Gesetze und internationaler Verträge im Parlament.

Das zeigt Wirkung. Schon in den ersten drei Monaten des neuen Regimes haben die Volksvertreter die Debatte zwischen EU und USA über den Datenschutz beeinflusst und die Kommission gezwungen, bei Verhandlungen von Handelsabkommen konkrete Zugeständnisse zu machen. Auch bei der Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, des 7000 Köpfe starken EU-Diplomatenkorps, wird das Parlament eine gewichtige Rolle spielen.

Blut geleckt bei Swift

Beim Thema der Weitergabe von Banküberweisungsdaten an die US-Behörden haben sämtliche Fraktionen von rechts bis links Blut geleckt. Weil Kommission und Rat nur äußerst widerwillig über Inhalt und Folgen dieses sogenannten Swift-Abkommens informierten, brachten es die Abgeordneten am 11. Februar mit 378 zu 196 Stimmen zu Fall.

Washington zeigte sich zunächst verschnupft, doch aus der unausgesprochenen Drohung, die USA verzichte nun auf ein Abkommen mit der EU, wurde nichts. Stattdessen gehen die Amerikaner nun offen in die Verhandlungen über ein allgemeines Datenschutzabkommen mit den Europäern. „Es ist ein Missverständnis, dass EU-Bürger unter dem US Privacy Act nicht gleich behandelt werden“, sagte Nancy Libin, die oberste Datenschutzbeauftragte des US-Justizministeriums, vergangene Woche in Brüssel vor Journalisten. „Ich hoffe, dass wir schnell ein bindendes Abkommen schließen können.“

„Natürlich hat es Missverständnisse gegeben. Aber wir haben in Europa andere Erfahrungen mit dem Eingriff in die Privatsphäre als die USA. Das ist eine philosophische Debatte, und die Swift-Ablehnung war total gut geeignet, sie anzustoßen“, sagte Jan Philipp Albrecht, ein 27-jähriger Grüner aus Braunschweig und einer der führenden Köpfe im Parlament in Sachen Datenschutz, zur „Presse“.

„Nicht mehr nur motzen“

Stark ist der Einfluss der Abgeordneten auch, wenn es um internationale Handelsverträge geht. Konkreter Anlass ist das Anti-Produktpiraterie-Abkommen Acta, dessen diskrete Verhandlungen Anlass zu Spekulationen über Eingriffe in die Bürgerrechte geben. „Die EU wird nicht akzeptieren, dass Acta eine Verpflichtung schafft, Menschen wegen illegaler Downloads vom Internet zu trennen“, beteuerte Handelskommissar Karel De Gucht am Dienstagabend vor dem Parlament.

Eine Zusicherung, die es ohne Druck des Parlaments und eine Resolution nicht gegeben hätte, sagte Daniel Caspary, ein 33-jähriger CDU-Abgeordneter aus Karlsruhe, am Mittwoch. „In den letzten drei Wochen hat die Kommission ihre Kommunikationspolitik völlig geändert. Im Außenhandel ist das Europaparlament heute auf gleicher Augenhöhe.“ Das bringe neue Verantwortung mit sich. „Wir müssen erst lernen, dass wir nicht mehr gleichsam die Opposition sind, die motzen kann, sondern dass wir jetzt Verantwortung haben“, sagte Caspary.

Bei der Schaffung des EU-Diplomatenkorps versuchen die Abgeordneten mehr Einfluss zu nehmen, als ihnen nach den Buchstaben der EU-Verträge zusteht. Formal sind sie nur für Budget und Personalstatut mit zuständig. Mit diesen beiden Druckmitteln wollen sie aber zum Beispiel auch die Anhörung von EU-Botschaftern und Sondergesandten durchsetzen.

AUF EINEN BLICK

Der Lissabon-Vertrag macht das EU-Parlament zum fast gleichberechtigten Mitentscheider bei der Schaffung europäischer Gesetze. Auch internationale Verträge kann die EU seit 1.Dezember nur mit Zustimmung der Europaabgeordneten schließen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2010)

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