Ungarn: Roma zogen ein und der Staat zog aus

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Ungarn will die Benachteiligung der Roma im nächsten Halbjahr der EU-Präsidentschaft verstärkt diskutieren. Sie sitzen selbst auf einem sozialen Pulverfass. In einigen Regionen gibt es weder Polizei noch Schulen.

Budapest. „So geht es einfach nicht weiter“, sagt Zoltán Balog. Er ist seit einem halben Jahr ungarischer Staatssekretär für den „sozialen Aufstieg“ und damit Hauptverantwortlicher für Roma-Fragen. Er sitzt auf einem sozialen Pulverfass, das sich bereits mehrfach entladen hat – unter anderem in einer brutalen Mordserie an Roma oder in paramilitärischen Aufmärschen der mittlerweile verbotenen rechtsextremen „Ungarischen Garde“.

Ungarn ist von der Integration der Roma weiter entfernt denn je und so gesehen dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy mehr als dankbar. Balog wundert sich zwar, dass sich die Zahl der Roma in der EU innerhalb von Jahren auf zwölf Millionen verdoppelt haben soll. Die Zwangsabschiebungen der Franzosen hätten aber gezeigt, dass die Roma-Frage nicht allein Sache der Ungarn, Slowaken, Rumänen oder Bulgaren ist. Deshalb macht Ungarn sie zu einem Hauptthema seiner EU-Ratspräsidentschaft, die im Jänner beginnt. Viele Staaten mit einer großen Minderheit können sich die EU-Förderungen in Zeiten der Krise (dank obligatorischer Kofinanzierung) schlicht nicht leisten oder setzen andere Prioritäten. Deshalb sind andere Lösungen gefragt.

80 Prozent sind arbeitslos

Das Bild, das Balog zeichnet, ist trist. 700.000 Roma leben in Ungarn – sieben Prozent der Bevölkerung. Im Durchschnitt sind 80 Prozent arbeitslos, bei den Frauen sogar 90 Prozent. In manchen Regionen hat niemand einen Job – und das in zweiter Generation. Zu Zeiten des Kommunismus mussten viele Roma in der Schwerindustrie arbeiten. Sie bekamen aber nur einfache Arbeiten und erreichten nie ein Bildungsniveau, das ihnen einen Aufstieg ermöglichte.

Mit der Wende waren sie die Ersten, die ihre Arbeit verloren. In zehn Jahren verschwanden 300.000 Jobs. Die restliche Bevölkerung verließ die benachteiligten Regionen, die Roma übernahmen ihre billigen Siedlungen. Im Nordosten Ungarns finden sich Städte mit 100 Prozent Roma-Anteil. Es gibt keine Schule dort, keine Post, keine Polizeistation. „Die Roma zogen ein, der Staat zog aus“, bringt es Balog auf den Punkt. Was blieb, nennt der Staatssekretär, der evangelischer Pfarrer war, „Überlebenskriminalität“. Auch in Miskolc, mit 170.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Ungarns, regierten Armut und Gewalt. Und wer arbeite, bekomme im Höchstfall die Hälfte dessen, was er in Budapest verdienen würde.

Was will Balog dagegen tun? „Positive Diskriminierung und Armutsbekämpfung, wobei das für mich dasselbe ist.“ Um Bildungsprogramme für Roma zu entwickeln, ist allerdings eine Grundfrage zu lösen: Wer ist Roma und wer nicht? Minderheitenfeststellungen sind aber verpönt, entweder weil sie als diskriminierend angesehen werden oder weil die Bekennerquote gering ist. Oder weil sich plötzlich 100 Prozent als Roma sehen. So geschehen bei einem Jahrgang von Medizinstudenten, bei dem es spezielle Roma-Förderungen gab.

Schon beschlossen ist, dass künftig alle öffentlichen Jobs, auch in der Polizei, zu 30 Prozent mit Roma besetzt werden. Das ist der rechtsradikalen Opposition ein Dorn im Auge. Die Jobbik, die bei der letzten Wahl 17 Prozent der Stimmen erhielt und nun die zweitstärkste Kraft im Parlament ist, hat ganz andere Ideen. Abgeordneter Zoltán Bálczo will arbeitslose Roma zu gemeinnütziger Arbeit zwingen und die Kinder unter der Woche in Internaten unterbringen, um sie aus ihren desolaten Familienverhältnissen zu holen. Außerdem dürfe die Familienbeihilfe nicht mehr Hauptquelle des Einkommens sein. Die Regierungspartei Fidesz zeigt sich aber genau da großzügig: Für ein Kind bekommen Ungarn monatlich 30.000 Forint, für drei Kinder sogar 110.000. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 130.000 Forint.

Zwölfjährige Mütter in die Schule

Balog hält die Jobbik-Vorschläge für „totalen Unfug“ und will nicht einmal darüber diskutieren. Zwangsmaßnahmen würden gar nichts bringen. Die Eltern müssten mitmachen – und zwar wörtlich. Balog will die Kinder mit ihren Müttern und Großmüttern in die Schulen holen. Schließlich bekämen Roma-Mädchen nicht selten mit zwölf Jahren das erste Kind, mit 35 seien sie Großmütter. Lesen können sie oft noch immer nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2010)

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