Merkel schließt Schuldenschnitt nicht mehr aus

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Die deutsche Kanzlerin erklärt nach einem Treffen mit der EU-Kommission, dass Athen die Chance haben muss, „wieder auf die Beine zu kommen“. Damit öffnet sich die Tür zur Entschuldung.

Brüssel. Nach 18 Monaten nahm das Drama um die griechischen Staatsschulden am Mittwoch im Pressesaal der Europäischen Kommission eine entscheidende Wende. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss dort die Umschuldung Griechenlands erstmals nicht mehr aus. Auf die Frage, ob ein griechischer Schuldenschnitt nötig sei, antwortete Merkel: „Dafür haben wir ja die Troika vor Ort. Sie wird bewerten: Ist die Schuldentragfähigkeit gegeben? Ja oder nein? Auf dieser Basis werden wir als EU-Staaten entscheiden, wie wir weiter fortfahren.“ Weiters erklärte Merkel: „Griechenland muss die Chance bekommen, dass es wieder auf die Beine kommt.“ Das klingt entschieden anders als die bisherige stets eindeutig vorgetragene Sicht Merkels und anderer deutscher Regierungsmitglieder, wonach ein Schuldenschnitt – also die teilweise Streichung der griechischen Außenstände – außer Frage stünde.

„Realwirtschaft wird erdrückt“

Die „Troika“, von der Merkel sprach, besteht aus Vertretern der Europäischen Kommission, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB). Sie prüft, ob die griechische Regierung die vereinbarten Wirtschaftsreformen und Budgetsanierungen einhält und ob es angesichts der volkswirtschaftlichen Kennzahlen realistisch ist, dass der griechische Staat die Forderungen seiner Gläubiger in vollem Umfang begleichen kann.

Genau das ist zusehends auszuschließen. Zu Wochenbeginn legte das Athener Finanzministerium seine neuen Berechnungen vor, wonach die Konjunktur auch im kommenden Jahr schrumpfen wird: zum vierten Mal in Folge. „Wir erleben, wie die Realwirtschaft langsam erdrückt wird“, sagte Wirtschaftsminister Michalis Chrysochoidis in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“. „Es gibt Exportunternehmen, die zurzeit wahre Wunder vollbringen und trotzdem sterben müssen, weil sie keinen Kredit bekommen.“ Die Arbeitslosenrate wird laut Athener Finanzministerium von heuer 15,2 im kommenden Jahr auf 16,4 Prozent steigen. Die Staatsschuldenquote dürfte heuer 161,8 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, nächstes Jahr gar 172,7 Prozent. Ein weiterer Generalstreik, der am Mittwoch das Land großteils lähmte, machte die Frustration und den Ärger der Griechen über ihr Schicksal auf ein Neues deutlich.

Um diese Schuldenlast wesentlich zu lindern, müsste Griechenlands Volkswirtschaft 30 Jahre lang mit durchschnittlich drei Prozent wachsen, hat der US-Ökonom Jeffrey Sachs vor einiger Zeit argumentiert. Die Brüsseler Denkfabrik Centre for European Policy Studies wies unlängst in einer Studie aber darauf hin, dass drei Prozent Wirtschaftswachstum für Griechenland auf absehbare Zeit kaum erreichbar ist. Denn erstens schrumpft die Zahl der Werktätigen; ihr Höhepunkt war laut Statistik der Europäischen Kommission im Jahr 2009. Ein Dreiviertelprozentpunkt des durchschnittlichen Wachstums von drei Prozent in den Jahren 1970 bis 2004 war aber rein auf die wachsende Zahl der Arbeitskräfte zurückzuführen. Und zweitens wurde die griechische Konjunktur im vergangenen Jahrzehnt fast ausschließlich durch das starke Wachstum der Binnennachfrage und nicht handelbarer Dienstleistungen gestützt. Doch dieser Teil der Volkswirtschaft ist besonders stark von den Einsparungen und Steuererhöhungen betroffen. Überspitzt gesagt: Bis sich die durchschnittliche Athener Familie wieder eine Putzfrau und das wöchentliche Abendessen im Restaurant leisten kann, werden noch einige Jahre vergehen.

Diese Misere lässt sich folglich nur durch eine Umschuldung Griechenlands beenden. Nur mit einer Staatsschuldenquote von deutlich weniger als 100 Prozent wird Athen irgendwann wieder in der Lage sein, selbst Anleihen auf den Finanzmärkten zu platzieren und seine Budgethoheit, die es derzeit an die anderen Euroländer und den IWF abgegeben hat, zurückgewinnen.

Ob sich Merkel und ihre Amtskollegen schon beim nächsten Europäischen Rat in zehn Tagen darauf einigen können, ist offen. Es hängt davon ab, ob die Troika ihren Bericht bis dahin vorlegt. Doch die Weichen werden bereits gestellt. Heute, Donnerstag, trifft Merkel IWF-Chefin Christine Lagarde, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

Barroso weist Hahn in die Schranken

Generell stehen in Europa die Zeichen auf Kontrolle und Sanktionierung bei sorgloser Schuldenpolitik. So ist es auch zu erklären, dass Kommissionspräsident José Manuel Barroso Österreichs Regionalkommissar Johannes Hahn eine bittere politische Lektion erteilte. Hahn wird heute seinen Vorschlag für die Vergabe der Struktur- und Kohäsionsförderungen in den Jahren 2014 bis 2020 vorstellen. Bis zuletzt hat er sich dem deutsch-französischen Wunsch widersetzt, EU-Staaten, die sich nicht an den Stabilitäts- und Wachstumspakt halten, zur Strafe sämtliche Förderungen zu streichen. Das ist zwar schon jetzt beim Kohäsionsfonds möglich. Gemacht wurde es aber noch nie.

Doch zu Wochenbeginn musste sich Hahn dem deutsch-französischen Druck, der von Barroso und Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn unterstützt wurde, fügen: „Wir wollen auch, dass die Strukturfonds unsere Bemühungen unterstützen, die fiskalpolitische Disziplin zu erhöhen“, verkündete Barroso an Merkels Seite.

Ober sticht Unter: Das gilt offenbar auch in der Kommission. Denn nur drei Stunden zuvor hat Hahns Sprecher an derselben Stelle noch verkündet, derartige Strafsanktionen seien nicht beschlossen worden.

Auf einen Blick

Eine Umschuldung Griechenlands rückt näher. Die deutsche Kanzlerin Merkel schloss selbiges am Mittwoch in Brüssel erstmals nicht mehr explizit aus. Zuvor gelte es aber, den Bericht der Experten von EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank über die Schuldentragfähigkeit Griechenlands abzuwarten. Dessen volkswirtschaftliche Kennzahlen hatten sich zuletzt stark verschlechtert, ein Generalstreik das Land am Mittwoch fast vollständig lahmgelegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2011)

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