EU auf dem Scheideweg: Der (Alb-)Traum von Vereinigten Staaten

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Symbolbild(c) EPA (Robert Ghement)
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Zerbricht die enge Zusammenarbeit in der Europäischen Union an mangelnder wirtschaftlicher Konvergenz und träger Entscheidungsfindung, oder kommt eine große Vertragsänderung mit dem Verlust der Einstimmigkeit?

Sie propagieren eine radikale Lösung: Die diesjährigen Wirtschaftsnobelpreisträger Christopher Sims und Thomas Sargent empfehlen der EU als Ausweg aus der Krise einen noch engeren Schulterschluss. Sargent vergleicht die Situation in Europa mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Es habe 13 Staaten gegeben, die ihr eigenes Geld, ihre eigenen Steuern und ihre eigene Wirtschaftspolitik hatten. Doch die Schulden stiegen, und der Druck von außen nahm zu. „Erinnert Sie das an etwas?“ Die Lösung sei die Gründung der USA gewesen.

Für viele ist es ein Albtraum: Die Neugründung der EU in Form eines Überstaats, mit Eingriffsmöglichkeiten in die nationale Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik. Andere, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble, arbeiten aber bereits daran. Als Konsequenz der Schuldenkrise fordern sie „Durchgriffsrechte“ auf Mitgliedstaaten, die mit ihren Schulden die gemeinsame Wirtschaft und Währung gefährden. Es gehe zwar nicht um die „Vereinigten Staaten von Europa“, versichert Schäuble, aber um die notwendige Übertragung weiterer Kompetenzen auf europäische Ebene.

Laut dem deutschen EU-Abgeordneten und voraussichtlich nächsten Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz, bereiten sowohl die SPD als auch die CDU für ihre nächsten Parteitage Beschlüsse zur weiteren „Vertiefung der europäischen Integration“ vor. „Es geht um nicht weniger als um die Umgründung der EU“. In Berlin gebe es laut Schulz die Einsicht, dass letztlich eine große Vertragsänderung notwendig sei.

Warum dieser Wandel? Die Krise hat deutlich gemacht, dass die derzeitige Konstruktion der EU nicht ausreicht, um eine gemeinsame Währung stabil zu halten. Es gibt zu wenig Kontrolle und zu wenig Möglichkeiten der frühzeitigen Korrektur in einzelnen Mitgliedstaaten. Eine Alternative wäre, wie es der Wirtschaftsexperte und IFO-Präsident Hans-Werner Sinn propagiert, die Trennung von Ländern wie Griechenland. Oder dass ein Kern an stabilen Ländern eine neue Hartwährungsunion gründet. Der Nachteil daran ist, dass der gemeinsame Binnenmarkt, der wichtigste Wirtschaftsfaktor der 27 EU-Staaten in Mitleidenschaft gezogen würde. Die andere Alternative ist die Korrektur der politischen Konstruktion der EU. Diese kann – wie es der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und Angela Merkel propagieren – aber nur über eine engere wirtschaftspolitische Koordinierung funktionieren. Diese „Wirtschaftsregierung“ macht Eingriffe in nationale Souveränitätsrechte wie etwa in Budgets oder Pensionsregelungen notwendig.

Einstimmigkeitsprinzip aufheben

Die träge Entscheidungsfindung in der Krisenpolitik und zuletzt die Blockade des ausgeweiteten Euro-Rettungsschirms durch die Slowakei zeigen noch ein weiteres Problem auf: Die EU kann wegen ihres verankerten Einstimmigkeitsprinzips nicht rasch reagieren. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wirbt deshalb für das Ende der nationalen Vetos und die generelle Einführung von Mehrheitsentscheidungen. Damit würde sich die EU aber noch weiter zu einem Bundesstaat entwickeln. Einzelne Länder könnten im EU-Rat (Gremium der 27 Regierungen) nicht länger den Willen der Mehrheit blockieren. Ob dies durchsetzbar ist, muss freilich bezweifelt werden. Allein Österreich hat beim LKW-Transit erlebt, was EU-Mehrheitsentscheidungen (sie sind z.B. in Verkehrs- oder Umweltfragen schon jetzt möglich) auslösen können. Großbritannien hat stets klargestellt, dass es etwa in Fragen der Steuerpolitik nie auf ein Veto verzichten würde.

Auch Schulz ist klar, dass der Widerstand groß sein wird. „Wir müssen aber für diese Ideen den Kampf um die Mehrheit in der Bevölkerung beginnen.“ Den Bürgern müsse bewusst gemacht werden, dass es in ihrem Interesse liege, wenn es künftig gemeinsame, parlamentarisch kontrollierte Entscheidungen in der EU gäbe. In dem derzeitigen Krisenmanagement würden die Staats- und Regierungschefs ebenfalls Kompetenzen an sich ziehen. Doch diese sind in kein demokratisches System von Checks and Balances (Parlamente und Gerichte) eingebettet. Das könnte nur durch eine EU-Vertragsänderung verwirklicht werden. Ob diese auch Referenden beispielsweise in Österreich überstehen würde, ist freilich fraglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2011)

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