Jean-Claude Juncker: "Extremisten sind für simple Parolen empfänglicher"

Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker(c) APA/EPA/NICOLAS BOUVY (NICOLAS BOUVY)
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Jean-Claude Juncker, Spitzenkandidat der EVP bei der Europawahl, übt Kritik an Putin-Fans in der FPÖ und anderswo.

Die Presse: In knapp drei Wochen finden Europawahlen statt. Wird sich die Ukraine-Krise auf das Ergebnis auswirken – konkret auf die Mandatszahl der populistischen EU-Gegner?

Jean-Claude Juncker: Die Ereignisse verdeutlichen, dass das Thema Krieg und Frieden in Europa nicht endgültig vom Tisch ist. Die Krise in der Ukraine ist ein Weckruf für Europa. Aber einen Zusammenhang zwischen der Ukraine und einem möglichen Erstarken der Rechtspopulisten sehe ich nicht.

Es gibt allerdings Stimmen, die auf das genaue Gegenteil hoffen: Dass die Vorfälle in der Ukraine die EU näher zusammenrücken lassen und die politischen Kräfte im Zentrum stärken.

Genau deshalb halte ich die Ukraine-Krise für einen Weckruf. Wenn die EU-Bürger am 25. Mai zu den Wahlurnen schreiten, müssen sie sich der Gefahren bewusst sein, die auf uns lauern. Jeder vernünftige Mensch muss in dieser Krise erkennen, dass wir in den nächsten Jahren ein handlungsfähiges Europa brauchen. Und nicht etwa eine Lähmung des europäischen Entscheidungsprozesses durch Extremisten und Populisten.

Die Vorgangsweise von Wladimir Putin wird in der EU von Rechtspopulisten wie dem Front National oder der FPÖ gutgeheißen. Wie erklären Sie sich diese Sympathiebekundungen?

Extremisten sind für simple Parolen empfänglicher als gestandene, normal denkende Demokraten. Ich bin überzeugt, dass eine Mehrheit der Europäer für den Bruch des Völkerrechts keinerlei Verständnis hat. Wenn sich Populisten aller Couleurs jetzt in Herrn Putin verlieben, dann wird dies nicht zu europaweiten Liebesbekundungen Richtung Moskau führen. Unsere Bürger sind klüger als viele Politiker denken. Sie merken sehr wohl, was gespielt wird, wenn von Frau Le Pen über die Alternative für Deutschland bis hin zur ungarischen Jobbik auf einmal Lobgesänge auf Herrn Putins Aggressionspolitik angestimmt werden.

Angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate hat man das Gefühl, die EU habe nicht richtig eingeschätzt, welche Kräfte sie mit ihrem Angebot einer Partnerschaft mit der Ukraine entfesseln würde. Man hat mit Kiew verhandelt, als ob es nur um technische Details ginge.

Mir war die geopolitische Dimension von Anfang an bewusst. Dass das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine im vergangenen November nicht unterzeichnet wurde, geht einzig und allein auf russischen Druck zurück. Jetzt ist das Abkommen teilweise fixiert – und als nächsten Schritt müssen wir schleunigst das Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau unterschreiben. Wladimir Putin schafft dauernd neue Tatsachen in Europa, wir müssen unsererseits ebenfalls Tatsachen schaffen.

Dazu müsste die EU aber wissen, was sie eigentlich will. Und sich nicht von Moskau auseinanderdividieren lassen.

Die Differenzen innerhalb der EU sind nicht so dramatisch, wie es mancherorts geschildert wird.

Zurück zur EU-Wahl: Was würden Sie im Vergleich zu Ihrem sozialdemokratischen Rivalen, Martin Schulz, anders machen als EU-Kommissionspräsident?

Martin Schulz ist nicht mein Feind, insofern gibt es zwischen uns eine gewisse Schnittmenge von gemeinsamen Einsichten. Aber es gibt sehr wohl Unterschiede: Was die Haushaltskonsolidierung anbelangt, wäre es ein massiver Fehler, jetzt die Bremse zu ziehen. Zugleich brauchen wir wachstumsfördernde Impulse. Nachdem ich mehr zur Konsensbildung als zur Polarisierung neige, kann ich diese Aufgaben zweifellos besser bewältigen als Martin Schulz.

Ich habe diese Frage gestellt, weil Sie beim CDU-Kongress in Bielefeld der Liberalisierung abgeschworen haben – eine eher sozialdemokratische Position.

In den vergangenen Jahren ist die soziale Dimension in Europa systematisch unterbelichtet worden. Wir brauchen in allen EU-Mitgliedsländern ein Mindestmaß an Arbeitnehmerrechten und jeweils einen nationalen Mindestlohn, auch wenn sich dieser auf absehbare Zeit von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat der Höhe nach unterscheiden wird. Viele Politiker haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in einen Rausch von Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung hineingesteigert. Und die Deregulierung in Europa trägt vor allem zwei Namen: Tony Blair und Gerhard Schröder, zwei prominente Sozialdemokraten.

Woraufhin man erwidern könnte, dass die beiden bloß die Arbeit von Margaret Thatcher fortgeführt haben.

Gerhard Schröder und Tony Blair standen Margaret Thatcher wesentlich näher als ich. Der Neoliberalismus hat derzeit sein Zuhause in der Sozialdemokratie, nicht bei uns Christdemokraten.

Sie haben sich unlängst als Befürworter von starken Gewerkschaften geoutet. Wie wollen Sie die Arbeitnehmervertreter stärken?

Zu einer gut funktionierenden Wirtschaft gehört eine fein austarierte Sozialpartnerschaft. Wir haben in Europa einen Mangel an guter Tarifpolitik. In manchen Ländern – etwa in Deutschland – funktioniert es gut, dafür gibt es beispielsweise in Frankreich nicht das Maß an sozialem Dialog, das man momentan bräuchte.

Also müssten die Franzosen Deutschland nacheifern.

Es ist eine Verirrung deutschsprachiger Journalisten zu glauben, Deutschland wäre ein Modell für ganz Europa. Es gibt auch andere Länder, in denen die Sozialpartnerschaft gut funktioniert ...

...beispielsweise Österreich?

Es gibt jedenfalls genug andere Vorbilder außer Deutschland.

ZUR PERSON

Jean-Claude Juncker (*1954) ist einer der erfahrensten Europapolitiker. Der langjährige Regierungschef von Luxemburg (1995 bis 2013) hatte von 2005 bis 2013 den Vorsitz in der Euro-Gruppe. Eine Spionageaffäre kostete Juncker Ende 2013 das Amt des Premiers, Anfang 2014 wurde er von der Europäischer Volkspartei zum Spitzenkandidaten für die EU-Wahl ernannt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2014)

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