„Die Heere aus Söldnern sind Zeichen moralischen Verfalls“

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Symbolbild(c) APA (Georg Hochmuth)
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Die Wehrpflicht ist vor allem im Westen auf dem Rückzug. „Erfunden“ hat man sie im alten China, und später in Frankreich neu entdeckt.

Wer hat's erfunden? Nein, nicht die Schweizer – es waren (wie bei so vielem) die Chinesen, denen die „Erfindung“ des Prinzips einer generellen Wehrpflicht für Männer einer bestimmten Altersklasse zugeschrieben wird.

Es war im Staat Qin, einem jener anfangs etwa 15 Fürstentümer, die von 475 bis 221 vor Christus in der „Zeit der streitenden Reiche“ um die Herrschaft im heutigen Zentral- und Ostchina kämpften. Die Könige von Qin ließen irgendwann alle Haushalte registrieren und nach tauglichen Männern absuchen, die eingezogen werden konnten, meist zur Infanterie. Mit den Massenheeren konnte Qin alle Kontrahenten unterwerfen; 221 rief sich König Zheng zum Kaiser des neuen Einheitsreiches aus, das wir heute unter dem Namen „China“ kennen.

Tatsächlich gab es das Phänomen einer generellen Wehrpflicht immer wieder. Die Römische Republik kannte es ebenso wie europäische, arabische und asiatische Stadtstaaten, deren Männer in Milizen dienen mussten, in südamerikanischen Reichen war jeder Junge de facto auch Krieger. Im europäischen Mittelalter musste jedes Dorf und jede Familie dem Lehensherrn (dem König oder lokalen Fürsten) eine bestimmte Zahl Männer stellen – wieder meist fürs Fußvolk.

Das Schicksalsjahr 1793

Allerdings beschränkten sich diese Pflichten in der Regel auf den Ernstfall, denn stehende Heere Wehrpflichtiger gab es noch lange nicht: Ab dem Spätmittelalter griffen die Monarchen fast immer auf Söldnerheere zurück, ein Phänomen, das man heute etwas netter „Berufsheer“ nennt, und so wurde etwa auch der Dreißigjährige Krieg in Mitteleuropa großteils von Söldnern geführt, die sich mangels Sold oft durch Plündern und Brandschatzen finanzieren mussten.

Es war im revolutionären Frankreich, wo das moderne Modell von allgemeiner Wehrpflicht und Massenheer – auch in Friedenszeiten – entstand: Im Sommer 1793, als preußische und österreichische Truppen nach Frankreich stießen, rief der Nationalkonvent die „Levée en Masse“ aus, die Massenaushebung aller unverheirateten Männer zwischen 18 und 25. Das wurde 1798 im „Jourdan-Gesetz“ modifiziert: „Jeder Franzose ist ein Soldat und der Verteidigung der Nation verpflichtet.“ Frankreichs Heere waren bald weit stärker als die ihrer Gegner und ermöglichten Napoleons Siege, denn auch Berufssoldaten müssen irgendwann qualitativ schlechteren Massen weichen. Bald übernahmen die meisten Mächte die Wehrpflicht.

Folgenreiches Ende des Ostblocks

Gut 210 Jahre später – 2002 – kehrte Frankreich zum Berufsheer zurück. Es folgte einem Trend, der nach dem Kollaps des Ostblocks einsetzte – nach dem Ende der Gefahr eines neuen Weltkrieges in Europa, als es plötzlich wieder ums Sparen ging. Tatsächlich sind Berufsheere in Europa zwischen Portugal und Russland heute wieder die Regel statt die Ausnahme. Von 47 Staaten (sechs davon, etwa Monaco und Liechtenstein, haben kein Militär), leisten sich außer Österreich noch 13 ein Wehrpflichtigenmilitär (siehe Karte), etwa die Schweiz, Norwegen, Griechenland, Finnland, Moldawien. Von den bedeutenden Mächten der Nato gilt die Wehrpflicht nur noch in der Türkei, sie beträgt in der Regel 15 Monate. Im einstigen „Reich des Bösen“, in Russland, dient man(n) seit 2008 nur zwölf Monate – zuvor waren es 24 bei den Landstreitkräften und 36 bei Marine und Luftwaffe.

In den anderen großen Militärmächten USA und Großbritannien gab es Wehrpflicht nur im Krieg: Die Briten führten sie im Ersten Weltkrieg erst 1916 ein, nachdem sich ihr Berufsheer in Flandern, Ostfrankreich, im Irak und Palästina ausgeblutet hatte; 1920 wurde sie wieder ausgesetzt und 1939 erneut eingeführt, seit 1961 gibt es wieder ausschließlich Berufsstreitkräfte, die sich seither – etwa im Falkland-Krieg 1982 gegen das Wehrpflichtmilitär Argentiniens – als exzellent und superprofessionell erwiesen.

In den USA galt die Wehrpflicht während des Bürgerkriegs in den 1860ern, 1917/18 sowie von 1940 bis 1973. Die USA waren ein Beispiel für Länder, in denen Wehrpflicht zwar allgemein gilt, aber selektiv wirkt: So mussten etwa die Gemeinden nur bestimmte Quoten von Soldaten stellen, es gab viele Ausnahmen vom Dienst und zeitweise Lotterien, die die einzuberufenden Jahrgänge ermittelten. Solche zumindest faktisch selektiven Wehrsysteme gibt es etwa auch in China, Brasilien, Ägypten. In Dänemark gilt zwar Wehrpflicht, doch werden die Streitkräfte erst mit Freiwilligen gefüllt – erst wenn das nicht reicht, wird einberufen. In Belgien wiederum hatte der Umstieg auf ein Berufsmilitär 1995/96 einen massiven Qualitäts- bzw. Niveauverlust vor allem bei den Landstreitkräften zur Folge. Zuletzt fiel ein Wehrpflichtsystem in Europa 2011 in Polen.

In nicht wenigen Staaten gilt die Wehrpflicht auch für Frauen, vor allem in Israel, aber auch in China oder Kuba.

Philosophen prügeln Profiheer

Zahlreiche Philosophen neigten übrigens der Wehrpflicht zu, etwa Aristoteles (384  –  322 v. Chr.) und Jean-Jacques Rousseau (1712  –  78): Letzterer meinte, es sei „Pflicht und Recht jedes Bürgers, an der Verteidigung der Gesellschaft teilzunehmen“, und: Es sei ein Anzeichen moralischen Verfalls, das Kriegsgeschäft Söldnern zu überlassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2012)

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