Schulsystem: Zweifel an Bildungspflicht bis 18 Jahre

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Die Schulpflicht soll nicht automatisch nach neun Jahren enden, sondern erst dann, wenn die Schüler gut genug lesen, schreiben und rechnen. ÖVP-Chef Spindelegger ist dafür, Experten äußern Skepsis.

Bis zur Nationalratswahl dauert es zwar noch mehr als sieben Wochen, Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) denkt aber schon jetzt laut über mögliche Inhalte des nächsten Regierungsprogramms nach. Geht es nach dem ÖVP-Chef, soll nämlich die „Bildungspflicht bis 18 Jahre“ Teil des Programms sein und damit die Schulpflicht in Österreich um drei Jahre verlängert werden.

Spindelegger schließt sich damit einer Forderung des Expertenrats für Integration an, der die Diskussion überhaupt erst ins Rollen gebracht hat und heute, Dienstag, einen umfassenden Bericht vorlegen wird. Das Unterrichtsministerium steht dem Plan zwar grundsätzlich positiv gegenüber, zeigt sich aber vorsichtig. Der „Presse“ liegen die Handlungsempfehlungen des Expertenrats vor.

1 Was wünscht sich der Expertenrat konkret?

Die Schulpflicht soll nicht wie bisher automatisch nach neun Jahren enden, sondern an Bildungserfolge geknüpft werden. Erst wer gewisse Mindeststandards in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnung vorweisen kann, soll die Schule verlassen dürfen.

2 Wie könnte eine Bildungspflicht bis 18 Jahre aussehen?

Genau überlegt haben sich das weder die Integrationsexperten noch die Regierung. Die Forderung nach einer Bildungspflicht bis 18 Jahre sollte lediglich eine Anregung sein, sagt Heinz Faßmann, der Vorsitzende des Expertenrats im Gespräch mit der „Presse“. Wo eine solche Ausbildung stattfinden soll, ist ebenso wenig geklärt wie die Frage, wer sie finanzieren wird. Unwahrscheinlich ist, dass sich allein die Polytechnische Schule um die Jugendlichen, die die geforderten Mindeststandards nicht erreichen, wird kümmern müssen. „Diese Schüler in einer Sonderklasse zu stapeln wäre Blödsinn“, sagt Stefan Hopmann, Bildungswissenschaftler an der Uni Wien. Was es brauche, wäre ein (noch) besseres Zusammenspiel von einzelnen Schultypen und beruflicher Ausbildung.

3 Wer könnte davon betroffen sein? Wem soll das helfen?

Bis 18 Jahre sollten jene Jugendliche in die Schule gehen, die die Mindeststandards nicht erfüllen. Das sind derzeit de facto meist jene, die weder einen Pflichtschulabschluss haben noch einen Lehrplatz ergattern. In Österreich verlassen jährlich rund sieben Prozent der Jugendlichen (etwa 7000) nach der neunten Schulstufe das Bildungssystem – ohne weitere Ausbildung. Etwa 1,6 Prozent erreichen keinen Pflichtschulabschluss (rund 1500).

4 Ist es sinnvoll, die Schüler drei Jahre länger im System zu halten?

Nur bedingt. Experten halten es für unwahrscheinlich, dass jene Schüler, die es nicht geschafft haben, innerhalb von neun Jahren auf ein gewisses Leistungsniveau zu kommen, in den folgenden drei Jahren einen großen Sprung machen. Es dürfe gar nicht erst so weit kommen, dass Schüler nach neun Jahren die Mindeststandards nicht erfüllen können. „Eigentlich müssten wir kontinuierlich gegensteuern“, so Christiane Spiel, Bildungspsychologin an der Uni Wien.

5 Wovon soll es abhängen, wer länger in der Schule bleiben muss?

Dass Noten nur wenig über die eigentlichen Fähigkeiten der Schüler aussagen, ist seit Bildungsstudien wie PISA oder dem Wiener Lesetest bekannt. Folglich wäre es kaum sinnvoll, die Noten als Kriterium heranzuziehen. Es braucht also einen Test, der zeigt, wie gut Schüler wirklich sind. Damit wird einmal mehr die mittlere Reife zum Thema. Diese Minimatura wurde von den Regierungsparteien zwar immer wieder angedacht, geriet dann aber in Vergessenheit.

6 Was würde die längere Schulpflicht für die Lehre bedeuten?

In der Wirtschaftskammer glaubt man nicht, dass es durch die Verlängerung der Schulzeit zu einem Mangel an Lehrlingen kommen würde. Im Gegenteil: „Wenn Einzelne ein Jahr später in die Lehrlingsausbildung kommen und dann gut ausgebildet sind, kann uns das nur recht sein“, sagt Alfred Freundlinger von der Bildungsabteilung der Wirtschaftskammer.

7 Welche weiteren Maßnahmen schlagen die Experten vor?

Der Expertenrat empfiehlt überdies ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, den Ausbau der sprachlichen Frühförderung im Kindergarten sowie eine gezielte Sprachförderung in Betrieben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2013)

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