ZEITZEUGE 1938: Jazzmusik und Antroposophie

Die Presse: Herr Doktor Böhm, Sie waren im März '38 gerade 16 Jahre alt...
Helmut Böhm-Raffai:
Mein Vater war Antroposoph, daher Hitler-Gegner. Die Verwandten waren illegale Nationalsozialisten. Die Familienbande waren damals so stark, dass man sich trotz heftiger politischer Debatten vertragen hat. 95% hatten damals wohl eine feste ideologische Ansicht, von der sie überzeugt waren, dass sie die einzig richtige ist.

Wie ist einer Nazi geworden?
Böhm-Raffai: Man sollte meinen, dass Menschen mit Verantwortungsbewusstsein und Intelligenz sich Verschiedenes ansehen und sich dann entscheiden. Damals war es eher die Folge eines Zufalls. In erster Linie hat man sich an Vorbildern orientiert: Wenn einer brav war, ist er das geworden, was der Vater war. Wenn er nicht brav war, wurde er das Gegenteil. Noch wichtiger war ein älterer Freund oder Schulkollege. Und wenn der ein Nazi war, dann konnte das nur erstrebenswert sein.


Und der Antisemitismus?
Böhm-Raffai: Der war doch beschränkt auf gewisse Bevölkerungsgruppen. Sagen wir so: Er war latent, er war bekannt, aber keiner hätte geahnt, welches Unheil er anrichten würde. Ich ging in die Rudolf-Steiner-Schule (Habsburgergasse), in der ungefähr die Hälfte der Klassenkameraden Juden waren.

Die Antroposophen waren sicher unbeliebt im „Ständestaat“?
Böhm-Raffai: Die Schule hatte es sehr schwer unter Dollfuß und Schuschnigg, weil die katholischen Machthaber gegen die Antroposophie waren. Ich habe diese Erziehung auch nicht geschätzt, weil sie mir zu doktrinär war. So, wie unsere Eltern eben waren. Sie waren dem Jazz gegenüber sehr negativ eingestellt. Ich dagegen habe diese „Negermusik“ aus Protest gegen die Eltern als „Musik der Freiheit“ empfunden – schon als Kind musste ich mit ihnen im Konzert die 9. Beethoven anhören! Bei den Nazis war Jazz ebenso verpönt, also musste ich meine „Fahne der Freiheit“ gar nicht wechseln...

Wie waren die Wochen vor dem März '38?
Böhm-Raffai: Was ich empfunden habe, war eine latente Angst, die auf die dauernde Drohung zurückzuführen war, die in der Luft lag. Es war eine Zeit der Verunsicherung. Meinem Vater haben die Brüder immer wieder gesagt. Pass, auf, wenn wir ans Ruder kommen, dann wirst du sehen!

Und?
Böhm-Raffai: Mein Vater hatte Angst. Gleich nach dem Anschluss hat er mich bei der HJ angemeldet. Er war als Ingenieur seit 1933 arbeitslos – da bekam er das Angebot eines Baumeisters. Der war illegaler Nazi und konnte daher sofort mit großen Aufträgen rechnen. Der Vater machte den Firmeninhaber aufmerksam, dass er ein Gegner des Regimes sei, das war dem Baunternehmer völlig wurscht. Von gestern auf heute war die Not weg. Politisch hat sich mein Vater in die innere Emigration zurückgezogen.

Dipl.-Ing. Dr. Helmut Böhm-Raffai (85) ist heute Schriftsteller und Schauspieler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2008)

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