1914: Wie entfacht man einen Weltenbrand?

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Die Kriegserklärung. Mit einem erfundenen Gefecht und einem mysteriösen Telegramm sieht sich Österreich im Recht. Mit gutem Willen wäre der Schlag gegen Serbien jederzeit zu stoppen gewesen. So aber treten nun die Bündnisse in Kraft.

Am 26. Juli 1914 ist man in den Wiener Militär- und Diplomatenkreisen einer Kriegserklärung an Serbien schon sehr nahe. Vor drei Tagen hat der österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad jenes Ultimatum an die serbische Regierung überreicht, für das Wiens Diplomaten und Politiker fast zwei Wochen gebraucht hatten. Am 25. Juni nun hat Serbien die fein ziselierte diplomatische Note abgelehnt. Der siebte Punkt gab den (einkalkulierten) Ausschlag: Das serbische Königreich müsse österreichische Beamte ins Land lassen, um die Hintermänner des Sarajewo-Attentats an Ort und Stelle ausfindig zu machen. Gesandter Baron Wladimir Freiherr von Giesl und seine Mitarbeiter haben Belgrad bereits verlassen.

Jetzt geht es um die möglichst rasche Mobilmachung der kaiserlichen Armee. Dazu benötigt der Generalstabschef Franz Conrad (von Hötzendorf) aber einen Auftrag bzw. eine Kriegserklärung. Informell ist sie ja schon seit 21. Juli da und den beiden Ministerpräsidenten Graf Karl Stürgkh (Österreich) und Graf Istvan Tisza (Ungarn) vertraulich zugeschickt worden. „An meine Völker“ beginnt die Proklamation Kaiser Franz Josephs: Serbien habe „den Weg der offenen Feindseligkeiten betreten . . . Diesem unerträglichen Treiben muss Einhalt geboten werden.“

Doch wie sollte ein militärischer Schlag gegen das aggressive Serbien eigentlich ausschauen? Welche Generalstabspläne gab es? Der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner hat die Operationspläne analysiert und schließt daraus auf eine Besetzung großer Teile des serbischen Königreichs. Danach wäre es zum „Halt in Belgrad“ gekommen, also zu einer zeitweisen Besatzung in der serbischen Hauptstadt. Endgültige Beschlüsse über Operationsrichtungen und -ziele waren aber ebenso wenig möglich wie eine Abschätzung der Truppenstärken, weil ja noch nicht klar war, ob es nur einen isolierten Krieg auf dem Balkan oder auch einen solchen gegen das russische Zarenreich geben würde.

Franz Conrad braucht Zeit

Franz Conrad ist also in einer äußerst heiklen Lage. Er, der seit Jahr und Tag für einen „Präventivschlag“ gegen die serbischen Unruhestifter eingetreten ist, muss nun bremsen. Die Mobilmachung der k. u. k. Armee benötigt 14 Tage. Es müssen Reservisten einberufen werden, die Verbände aufgefüllt und in die Bereitstellungsräume verlegt werden. Ein Teil der aktiv dienenden Mannschaften ist obendrein noch auf dem unbedingt notwendigen Ernteurlaub. Schon deren Rückberufung hätte Aufsehen erregt und sofort Gegenmaßnahmen aller möglichen Kriegsgegner nach sich gezogen.

Benedikt beim Sektionschef

Einer der bestinformierten Männer in dieser heiklen Zeitspanne ist der Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, Moriz Benedikt. Mit Johann Graf Forgách von Ghymes und Gács, dem Sektionschef im Außenministerium, verbindet ihn eine lange Bekanntschaft. Benedikt notiert, was ihm der Beamte zu sagen hat: „Es wäre besser gewesen, wenn wir gleich hätten losgehen können“, meint des Außenministers Gehilfe. „Wir wollten aber nicht mit der Mobilisierung anfangen, weil wir das schon zweimal gemacht haben. Das hat jedes Mal viele hundert Millionen gekostet und es ist dann nicht zum Schlagen gekommen. Ein drittes Mal kann man nicht wieder so viel Geld ausgeben und die Armee enttäuschen. Das geht absolut nicht. Trotzdem dies ein großer Nachteil ist, wollten wir es nicht anders machen, um die Sympathien nicht zu verlieren.“ Und auf die Frage Benedikts, ob sich dieser geplante Feldzug irgendwie lokalisieren ließe, meint Forgách: „Wir glauben, dass Russland nicht so weit ist, um einen Krieg zu führen.“

Hinter den Kulissen geht es schon längst ums Geld. Bereits am 20. Juli haben sich die Finanzminister der beiden Reichshälften, ihre engsten Berater und der Gouverneur der Oesterreichisch-ungarischen Bank in Budapest getroffen, um die monetären Maßnahmen zu besprechen. Unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit sind sie an diesem Tag über den Wortlaut des Ultimatums informiert worden.

Teilmobilmachung

Ganz untätig bleibt die Armee freilich nicht. Am Nachmittag des 23. Juli war den vorgesehenen Armeekorps befohlen worden, alle Übungen abzubrechen und die Regimenter bis spätestens 25. Juli abends in ihren Friedensgarnisonen zu versammeln. Das war also die Teilmobilmachung.

Auf seiner Heimfahrt aus Belgrad wird Baron Giesl an den Bahnstationen von jubelnden Menschen begrüßt. Über Raab (Györ) fährt er nach Wien und berichtet dem Außenminister. Dann macht er sich wieder auf den Weg, um am 27. Juli in Ischl dem Kaiser und „Allerhöchsten Kriegsherrn“ Bericht zu erstatten. Stehend, wie es Franz Joseph bei jeder Audienz hält. Angeblich sagt er zu seinem Botschafter: „Sie haben nicht anders handeln können – ich muss auch das noch auf mich nehmen.“

Franz Joseph rechnet also mit Krieg. Aber freilich mit einem Feldzug, der in den Formen des 19. Jahrhunderts gedacht war. Dass er in völlig veralteten Strukturen denkt, kein Telefon benützt und Automobilen gegenüber misstrauisch ist, sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Die Schuld trifft eher die Militärs, die den „Obersten Kriegsherrn“ über die katastrophalen Fortschritte der Kriegstechnik hätten informieren müssen. In des alten Kaisers Vorstellungswelt existierten keine Bombenflugzeuge, Tanks und Maschinengewehre.

Das Gefecht von Temes Kubin

Wie entfesselt man einen Weltkrieg? Wie kommt es zur Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli 1914? Und zur russischen Generalmobilmachung (30. Juli)? Rauchensteiner schildert jene Episode, die als das Gefecht von Temes Kubin in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Eine reine Falschmeldung. Und das kam so: Bei Temes Kubin, heute Kovin, einem kleinen Ort am Nordufer der Donau gegenüber von Smederevo, hatten einige nervöse oder undisziplinierte Leute ihre Gewehre auf ein österreichisches Schiff abgefeuert, mehr nicht. Es gab überhaupt keinen Schaden.

Doch das Kommando des IV. Korps (Budapest) meldete dem Generalstab in Wien: „Temes Kubin: Serbische Soldaten auf Schiff auf eigene Truppen Feuer eröffnet, großes Geplänkel, Anzahl Tote und Verwundete nicht bekannt.“ Das Büro des Generalstabschefs soll daraufhin das Ministerium des Äußern informiert haben. Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Das Militär recherchierte in Temesvár erst, nachdem die Meldung bereits an Außenminister Graf Berchtold weitergegeben worden war.

Berchtold setzte nun seinen „Alleruntertänigsten Vortrag“ für den Kaiser auf, der die Kriegserklärung enthielt: „Mit Rücksicht auf die Antwortnote der serbischen Regierung, welche inhaltlich zwar ganz wertlos, der Form nach aber entgegenkommend ist, halte ich für nicht ausgeschlossen, dass die Tripleententemächte noch einen Versuch machen könnten, eine friedliche Beilegung des Konfliktes zu erreichen, wenn nicht durch die Kriegserklärung eine klare Situation geschaffen wird. Einer Meldung des 4. Korpskommandos zufolge haben serbische Truppen von Donaudampfern bei Temes Kubin gestern unsere Truppen beschossen, und es entwickelte sich auf die Erwiderung des Feuers hin ein größeres Geplänkel. Die Feindseligkeiten sind hiermit tatsächlich eröffnet worden, und es erscheint daher umso mehr geboten, der Armee in völkerrechtlicher Hinsicht jene Bewegungsfreiheit zu sichern, welche sie nur bei Eintritt des Kriegszustandes besitzt. . . Ich erlaube mir zu erwähnen, dass Seine k. u. k. Hoheit der Oberkommandant der Balkanstreitkräfte, Erzherzog Friedrich, sowie der Chef des Generalstabes gegen die Absendung der Kriegserklärung morgen Vormittag nichts einzuwenden hätten.“

Eine Falschmeldung

Als Franz Joseph die Kriegserklärung unterzeichnete, wusste Berchtold schon, dass er einer Falschmeldung aufgesessen war. Aber das änderte nichts mehr am Lauf der Dinge.

Wo ist nun dieses fatale Telegramm mit der Fehlinformation? Rauchensteiner hat im Wiener Kriegsarchiv nichts gefunden – weder bei der Militärkanzlei noch bei den Generalstabsakten, den Operationsakten oder in anderen Beständen der sogenannten „Neuen Feldakten“. Nichts! „Und das bei einem für den Kriegsbeginn zweifellos historischen Dokument“, sagt Rauchensteiner. Mag sein, dass es mit gutem Grund vernichtet wurde, oder dass die Meldung nur telefonisch einlangte.

Als Berchtold seinem Herrn nach 48 Stunden kleinlaut die Falschmeldung eingestehen musste, soll der Monarch zwar ungehalten gewesen sein, aber es gab keine Rüge, berichtete ein Flügeladjutant, Freiherr von Catinelli.

Telegrafische Kriegserklärung

Am Nachmittag des 28. Juli wurde Belgrad die Kriegserklärung übermittelt. Und zwar telegrafisch auf dem Umweg über Rumänien, da Österreich-Ungarn in Serbien ja keine diplomatische Vertretung mehr hatte. Russland gab nochmals zu verstehen, dass es nicht abseits stehen, sondern Serbien zu Hilfe eilen werde. Nun traten die wechselseitigen Bündnisse in Kraft. Und die wirkten sich verheerend aus. Denn eine österreichische und deutsche Mobilmachung musste Frankreich hineinziehen. Und würde Russland zu seinem Bündnis mit Frankreich stehen, dann stand der gefürchtete Zweifrontenkrieg vor der Tür.

London ließ verlauten, dass es nicht abseits stehen könne, wenn Frankreich hineingezogen werden sollte. Plötzlich sprach wirklich Sorge aus den deutschen Depeschen. Kaiser Wilhelm II. war persönlich beleidigt, dass sich die Briten nicht neutral erklärten, war er doch mit dem britischen König verwandt. Und Italien? Wie konnte man es zum Kriegseintritt an Österreichs Seite gewinnen? Statt wie bis dahin nur mit kleinen Summen die italienische Presse zu beeinflussen, wollte Berchtold nun im großen Stil bestechen. Zehn Millionen Kronen schienen ihm dafür nicht zu viel zu sein. Doch die Italiener verweigerten sich (vorerst) dem Krieg und erklärten sich neutral. Die Fronten waren geklärt. Der Weltenbrand konnte beginnen.

Literaturtipp:

Manfried Rauchensteiner

Der Erste Weltkrieg und das Ende

der Habsburgermonarchie

Böhlau, 1222 Seiten, 45 €

DER ZWEITE WELTKRIEG

Wir suchen Zeitzeugen. Am 1. September 1939

eröffnete das Deutsche Reich unter des „Führers“ Ägide den Feldzug gegen Polen, was im Zweiten Weltkrieg mündete – die zweite Katastrophe dieses 20. Jahrhunderts, die durch Leichtsinn, Über-heblichkeit, Fehleinschätzungen ausgelöst wurde.

„Die Welt bis gestern“, die in der „Presse“ als Samstag-Serie seit 2006 läuft, sucht Augen-zeugenberichte von damals. Wie erlebten Sie als Kind diesen Sommer und Herbst 1939? Haben Sie eventuell Familienfotos, die Sie uns leihweise zur Verfügung stellen? Ab September 2014 steht Ihnen diese Samstag-Seite zur Verfügung. Wir freuen uns auf ein reges Echo.
(Redaktion „Die Presse“/Zeitgeschichte, 1030 Wien, Hainburger Straße33). Am einfachsten per E-Mail (siehe Impressum).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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