Die Kinder der 68er: Hippie-Kindheit, sanfte Rebellion

Wie sehen jene, die 1968 geboren wurden, das sogenannte Revolutionsjahr? Distanziert, kritisch, verklärt oder begeistert: Sechs Menschen, sechs Geschichten.

Es ist um mehr gegangen als nur um die sexuelle Revolution.“

Euro-Turnierdirektor Christian Schmölzer verbindet sein Geburtsjahr vor allem mit Freiheit, Toleranz und Beweglichkeit. Und mit Aufbruch, auch wenn dieses Lebensgefühl den Weg von den Studentenrevolten nur zögerlich in den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern in Oberkärnten gefunden hat. Auf den Alltag in der Heimatgemeinde Möllbrücke habe die Aufbruchstimmung keinen Einfluss gehabt. Und doch, das Schlagwort 1968 habe einen Hintergrund. Den nämlich, dass die Nachkriegswehen vorbei waren – „wir haben die Boom-Jahre miterlebt“, meint Schmölzer.

Die Revolte war vorbei, als er in das Alter kam, das für Auflehnung anfällig macht. Nicht Demonstrationen waren interessant, sondern Fußball. Als Tormann brachte er es bis in die Bundesliga. Daneben baute er sich ein zweites Standbein auf, mit HAK-Matura und abgeschlossenem WU-Studium – die Grundlagen für eine Managementkarriere in der Bundesliga. Vorläufige Krönung ist die Aufgabe als Turnierdirektor der Fußball-EM.

Und das Privatleben? Das birgt mit Blick auf die Ereignisse von 1968 ähnlich wenig revolutionäres Potenzial. Verheiratet seit Oktober 2004, zwei Töchter – drei Jahre bzw. sechs Wochen alt. „Vermutlich führe ich ein Leben“, meint er, „wie es sich andere als bürgerlich vorstellen.“

Wenn man von 1968 redet, spricht man von Wien. Dabei war '68 auch anderswo, etwa im steirischen Schwanberg undmittendrin: Olga Neuwirth. Als eine der wenigen hierzulande kann die Komponistin keine Hipp-, sondern eine Hippie-Kindheit vorweisen. Im Garten ihrer Eltern mischten sich regelmäßig Künstler, Dorfbevölkerung und deren Kinder. Wobei die Kleinen aus der (braven) Nachbarschaft „manchmal richtig durchgedreht haben und mit dreckigen Gummistiefeln im Ehebett herumgehüpft sind“. Damals habe sie gemerkt, dass man mit Freiheit auch umgehen können muss.

Die antiautoritär Erzogene selbst hat früh Vernunft gelernt bzw. lernen müssen: „Ich war ständig in dieser Hippie-Eltern-Alarmbereitschaft, man wusste nie, was die Erwachsenen als Nächstes tun.“ Die Folge: Kinder zu bekommen hat für sie heute vor allem mit Verantwortung zu tun. Trotzdem fühlt sich Neuwirth der Generation von damals oft näher als ihrer eigenen: „Mit Elfriede Jelinek etwa verbindet mich eine Art, die heute als nervig gilt: Dinge analytisch zu betrachten, Vorhänge wegzureißen.“ „Ständiges Hinterfragen von allem“, der Anspruch von damals ist ihr geblieben, „auch wenn man sich das inzwischen (ökonomisch) schwerer leisten kann“. Dass sie übrigens bei der „E-Musik“ und nicht bei Jimmy Morrison gelandet ist, ist nur logisch: „Mein Vater hat sich mit Jazz von seinem Vater befreit. Vielleicht war für mich die Klassik die Gegenreaktion.“

Nein, sagt Gerald Straub, er sei kein „Kind der 68er“. Die waren ihm, der als „angewandter Kulturtheoretiker“ (Eigendefinition) in London lehrt, Filme macht und „performative Happenings“ veranstaltet, „eigentlich immer ziemlich egal“. Und irgendwie doch nicht. Weil er „drauf gekommen“ ist, dass er, 1968 sei Dank, „aus einem breiteren Möglichkeiten-Topf“ schöpfen, eher „sein eigener Herr“ sein konnte, als die Davor-Geborenen. Den „naiven Anti-Establishment-Drang der 68er“, habe er bis heute „mitgezogen“. Das ist bei Leuten, die 20 Jahre jünger sind, nicht mehr so, glaubt er. Auch weil „frei, flexibel“, die großen Schlagwörter von einst, heute oft schlicht „prekär“ bedeuten. „Heute ist man schon fast progressiv, wenn man Beamter ist und nicht ein Freelance-Kunstheini.“

Beamter, so wie Straubs Vater. Die Mutter ist Hausfrau, an beiden ging die 68er-Bewegung „relativ spurlos vorüber“. Kann aber sein, spekuliert Straub, dass er wegen 1968 und der propagierten Selbstbestimmung weniger Druck von Zuhause hatte, „einen schönen etablierten Beruf“ auszuüben. Was er auch nicht tat. Nach dem Studium (Kulturanthropologie) lebte er als Künstler in Mexiko und Schottland. Immer frei im Sinne der 68er, aber lange auch prekär.

„Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche“. Die alte 68er-Parole gefällt ihm immer noch. Auch wenn er „nicht mehr dran glaubt“, dass eine Demonstration etwas verändern kann. Ein 68er im Geiste, auf dem Boden der Realität. Sozusagen.

Sie hätte gern, aber sie konnte nicht. Sich aktiv in der 1968er-Bewegung engagieren nämlich. Die Proteste und Aktionen waren längst vorbei, als Karin Scheele, Jahrgang 1968, alt genug gewesen wäre, um mit zu demonstrieren. Gedanklich sei sie den propagierten Werten aber eng verbunden, allein schon deshalb, weil „1968 die Frauen um Lichtjahre vorangebracht hat“, sagt Scheele, die für die SPÖ seit 1999 im Europäischen Parlament sitzt. Die Forderung nach sexueller Freiheit „war sehr wichtig“, bedeutete sie für Frauen auch Selbstbestimmung. Ohne 1968, glaubt sie, „wäre ich als Frau vielleicht nicht in der Politik“. Und vor allem: „Ich wäre nicht erst mit 39 zum ersten Mal schwanger geworden, sondern vermutlich viel früher.“ Geburtstermin für Tochter Emma ist der 22. Juli, Scheeles 40. Geburtstag.

Im sozialdemokratisch geprägten Elternhaus in der 4000-Seelen-Gemeinde Enzesfeld-Lindabrunn (NÖ), in der Scheele aufwuchs und noch heute lebt (neben Straßburg), wurde 1968 „wahrscheinlich diskutiert“. Scheele und ihr Bruder wurden „relativ offen erzogen, aber ob das mit 1968 zusammenhängt, kann ich nicht sagen“. Das Interesse an der 68er-Bewegung wurde bei der EU-Parlamentarierin später geweckt, durch ihre Lehrer und in SP-Jugendorganisationen. Für Scheele hat 1968 „aus einer sehr verkorksten Gesellschaft eine viel offenere gemacht“. Die – positiven – Folgen würden auch jene spüren, „die behaupten, 1968 hätte keine Bedeutung gehabt“.

Das Jahr 1968 wird in seiner Familie, sagt Klaus Mühlbauer, eigentlich nur mit einem assoziiert: mit seiner Geburt. „Und mit meinem fortschreitenden Alter.“ Im „eher bürgerlichen“ Haushalt der Wiener Hutmacherfamilie war das Jahr 1968 also selten Thema. „Meine Eltern waren Unternehmer und von der 68er-Generation weit entfernt“, so Mühlbauer, das älteste von vier Kindern. „Sie waren aber schon immer sehr grün eingestellt und sind mit uns 1974 zu einer Anti-AKW-Demo gegangen.“ Ihre erste und letzte Demo, wie Mühlbauer vermutet. Über die damalige Zeit hat er also weniger von ihnen als von seinem Freund und Kabarettist Lukas Resetarits gehört.

Mühlbauer, der die Hutmanufaktur mit Schwester Marlies in vierter Generation weiterführt, fühlt sich „überhaupt nicht als Kind der 68er, schon eher als Kind der 80er“. Trotzdem würde er sich zumindest als „samtenen Revolutionär“ bezeichnen, der eine latente „Dauerrebellion“ in sich spürt, die er bei jüngeren Menschen vermisst. „Wenn ich mit Studenten der Angewandten rede, dann schauen zwar manche wild aus, dabei sind die so brav und trauen sich nichts zu sagen“, sagt er. Er habe seine Politikverdrossenheit zumindest verbalisiert. Dass ohne das Jahr 1968 heute vieles anders wäre, glaubt er aber nicht, auch die viel gepriesene „sexuelle Freiheit“ sagt ihm nichts. Mit dem Jahr 1968 setzt er sich dennoch auseinander, wenn auch eher in persönlicher Hinsicht. „Ich habe das Gefühl, es wäre opportun, sich langsam von der Jugend zu verabschieden.“

While I can dream, please let me dream.“ Sein Geburtsjahr verbindet der Gesundheits- und klinische Psychologe Alexander Gappmaier auch mit Elvis Presley. Wegen dessen Song „If I Can Dream“, 1968 geschrieben und an Martin Luther Kings große Rede („I Have a Dream“) angelehnt. Vielleicht, weil Träume für ihn als Psychologen eine besondere Bedeutung haben. Vielleicht, weil Gappmaier die Relevanz des Jahres erstmals bewusst wurde, als er in der Volksschule von den Rassenproblemen in den USA erfuhr.

Martin Luther King, „der Name war für mich so bekannt wie die Freiheitsstatue“, sagt Gappmaier heute. Der 1968-bedingte Wertewandel habe großen Einfluss auf ihn gehabt. Seine Eltern – unverheiratet – „haben zwar von den Uni-Revolten wenig mitbekommen, wurden aber von den Gedanken klar geprägt“. Freigeist, Toleranz, das wurde dem Sohn vermittelt, obwohl er streng erzogen wurde. „Eine Hippie-Familie waren wir nicht. Meine Mutter ist nicht eingeraucht in der Wiese gesessen.“ Sondern hat sich in einer großen Speditionsfirma als einzige Frau nach oben gearbeitet. „Das wäre ohne 1968 sicher nicht möglich gewesen.“

Auch auf seinen Beruf wirke 1968 nach. So würde er „kreativ und flexibel“ auf seine Patienten zugehen, Therapieformen nach Bedarf variieren. Was bei Therapeuten, die älter oder jünger sind, eher unüblich sei. „Entweder man ist Verhaltenstherapeut oder Psychoanalytiker.“ Davon hält Gappmaier wenig. Vorgefertigtes anzuwenden liegt ihm nicht. Ein Kind der 68er eben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2008)

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