Reisende soll man nicht aufhalten? Doch, manchmal muss man sogar

Österreich muss sich für seine Jihadisten interessieren. Für ihre Motive, ihr Umfeld, ihr Weltbild, ihre Fantasien. Es ist der einzige Weg, sie zu stoppen.

Zehn junge Menschen wurden an der österreichischen Grenze abgefangen, auf dem Weg in den Jihad. Gott sei Dank. Das ist eine (kleine) gute Nachricht für die Menschen in den Kriegsgebieten: zehn Kämpfer weniger, die ihre Häuser anzünden, sie bedrohen, aushungern, ermorden, als Geisel nehmen können. Für Österreich hingegen ist es eine Nachricht, die nicht leicht zu verdauen ist. Wie haben mitten unter uns junge Menschen Terrorsympathisanten werden können? Wie viele von ihnen gibt es wohl noch? Und wie gehen wir mit ihnen um?

Denn umgehen müssen wir mit ihnen– daran führt kein Weg vorbei. Einfach an den Grenzen beide Augen zudrücken und ihnen auf dem Weg nach Syrien nachzuwinken ist keine Lösung. „Reisende soll man nicht aufhalten“: Solch ein Satz kann nur dummen Zynikern einfallen, denen Kriege und ihre Opfer grundsätzlich gleichgültig sind – Hauptsache, sie bleiben im Ausland und behelligen uns nicht. Aus demselben Blickwinkel ist auch die Forderung absurd, Österreich möge Jihad-Sympathisanten so schnell wie möglich die Staatsbürgerschaft, die Aufenthaltserlaubnis oder den Aslystatus entziehen und sie abschieben.

Ja wohin soll man sie denn schicken? Direkt ins Kriegsgebiet womöglich, auf dass sie dort tun, was sie ohnehin vorhatten: nämlich kämpfen, morden, entführen, brandschatzen und neue Flüchtlinge außer Landes treiben?

Nein. Die Aufgabe, die auf Österreich (und alle westlichen Länder, in denen IS-Krieger gewachsen sind) zukommt, ist schwieriger. Wir werden uns mit diesen jungen Menschen auseinandersetzen müssen. Mit ihrer Gedankenwelt, ihrem Umfeld, ihren Problemen, ihren Idolen und ihren mörderischen Fantasien.

Dabei wird es zunächst um ihr konkretes Leben gehen müssen. Wo und mit wem leben sie, auf wen hören sie, bei welchen Aktivitäten kann man sie erreichen? Haben sie Arbeit, Ausbildung, Ambitionen? Woraus beziehen sie ihr Selbstwertgefühl, ihren Stolz? Gibt es irgendein Feld abseits des Heiligen Krieges, in dem sie Anerkennung bekommen oder eine Perspektive haben könnten?

Bei jenen unter ihnen, die selbst Kriegsflüchtlinge sind, wird man auch ihre Lebensgeschichte einbeziehen müssen. Wie wirkt es sich aus, etwa im Tschetschenien-Krieg aufgewachsen zu sein, Gewalt und existenzielle Angst erlebt, nahe Angehörige verloren zu haben? Solche Erlebnisse können in der Psyche, im moralischen Gefüge, in der Urteilskraft Heranwachsender Verheerendes anrichten.

Terroristische Propagandavideos – so gut sie auch gemacht sein mögen – wirken nämlich nicht einfach so. Sie wirken nicht auf jeden. Sie wirken umso eher, je größer das emotionale Vakuum ist, in dem sich junge Menschen befinden, je stärker sie sich ausgegrenzt, wertlos und gedemütigt fühlen. Ob aus einem pubertierenden Burschen ein Terrorist wird oder nicht, kann von einzelnen Bezugspersonen abhängen – einem Trainer im Sportverein, einer Lehrerin, einem Prediger in der Moschee, einem älteren Cousin, einer Freundin.

Je stärker allerdings das Misstrauen, die Abkapselung in der Gruppe, desto schwerer wird es, die Bezugspersonen, die eine Radikalisierung verhindern können, auch ausfindig zu machen.

Nein – das wird alles nicht einfach. Die Verstärkung des Verfassungsschutzes, wie die Innenministerin das vorhat, ist ein kleiner Teil der Arbeit – aber bei Weitem nicht alles. Es braucht mehr als Polizei. Es braucht Wachsamkeit im Alltag, bei der Jugend- und Sozialarbeit, mit Eltern, Schulen, Imamen, Vereinen. Es braucht vorurteilsfreies Zuhören, ehrliches Interesse, rastlose Aufklärung – und es braucht im richtigen Moment den entschiedenen Widerspruch.

Wir müssen verstehen, was junge Menschen in Österreich antreibt, in den Jihad zu ziehen. Nicht, um sie zu entschuldigen oder sie nachzuahmen. Sondern, um zu verhindern, dass sie Täter werden, und dass sich ihre mörderische Energie ausbreitet.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2014)

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