Österreich habe lange gebraucht, "um die Verantwortung in der Zeit zwischen 1938 und 1945 richtig zu erfassen", sagt der Bundespräsident.
Bundespräsident Heinz Fischer hat am Sonntag anlässlich des 75. Jahrestags des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs an die historische Verantwortung Österreichs erinnert. "In Österreich hat es leider ziemlich lange gebraucht, um unsere Situation und unsere Verantwortung in der Zeit zwischen 1938 und 1945 richtig zu erfassen und richtig einzuordnen", so Fischer laut Aussendung.
"Aber heute kann man sagen, dass aus der Geschichte ziemlich viel gelernt wurde", betonte Fischer und erinnerte daran, dass am 1. September vor 75 Jahren "der Zweite Weltkrieg mit einem Überfall der Deutschen Wehrmacht unter Adolf Hitler auf Polen begonnen hat." Das "Geschichtsverständnis" in Österreich sei nunmehr aber realistischer geworden.
Als am 1. September 1939 mit dem Angriff deutscher Truppen auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, kam dieser „Überfall“, wie er bis heute genannt wird, in Wahrheit keineswegs überraschend. Der Konflikt zwischen beiden Staaten hatte sich seit Monaten zugespitzt, deutsche Kräfte sammelten sich seit etwa 20. August an der Grenze, umgekehrt machte auch Polen seit spätestens 22. August teilweise mobil.TEXT VON WOLFGANG GREBER. Im Bild: Deutsche Panzereinheit mit Panzer I (ganz vorne) und Panzern II (hinten) am Fluß Brahe (Brda); rechts im Befehlspanzer steht möglicherweise General Heinz Guderian. (c) Bundesarchiv (o.Ang.) Als Hitler dann eine erste Einmarschorder – für 26. August – wenige Stunden vor dem Angriffszeitpunkt plötzlich zurückzog, waren Dutzende Divisionen in grenznahen Positionen marschbereit, rollten Vorauseinheiten an die Grenze. Den Polen blieb das nicht verborgen, sie warteten schon. Das hielt auch der spätere legendäre Generalfeldmarschall Erich von Manstein (1887-1973) in seinen Memoiren „Verlorene Siege“ fest: „Jetzt konnte von Überraschung des Gegners keine Rede mehr sein. Das Überraschungsmoment war aus der Hand gegeben.“Im Bild: Schon in den ersten Minuten des Kriegs am frühen Morgen des 1. September beschoss das Panzerschiff Schleswig-Holstein die Westerplatte, eine polnische Befestigung nahe Danzig. Bundesarchiv Überhaupt war der Feldzug kein „Spaziergang“, wie der Mythos es besagt. Viele der etwa 59 deutschen und drei slowakischen Divisionen (ca. 1,5 Millionen Deutsche, 50.000 Slowaken) die gegen 38 Divisionen und 15 Brigaden zogen (950.000 Mann), sahen sich vor argen Problemen: Die Truppe war nervös, die Kraft der Luftwaffe wurde überschätzt. Bei Tschenstochau fuhr die 4. Panzerdivision am 1. 9. in einen Hinterhalt von Kavalleristen. Die schossen mit Kanonen 30 bis 50 Panzer und Dutzende Fahrzeuge ab, machten Gefangene und wichen erst in der Nacht.Im Bild: Polnische Panzer Modell 7TP, abgeleitet vom britischen Vickers 6-Tonner, rücken in Formation vor. (c) Komuda, Leszek (1973 Sicher, die deutschen Armeen kamen rasch in Fahrt (Karte), umgingen die meist grenznahen Feindarmeen, zersplitterten sie, isolierten Reste in „Kesseln“ und überrollten die Reserven. Polens Führung floh am 7. 9. nach Brest-Litowsk, tags darauf rollten Panzer in Warschaus Vororte. Ein massiver Angriff der Polen an der Bzura nördlich von Lodz ab 9. 9. gegen die Flanke der 8. deutschen Armee drohte diese zwar zu sprengen, wurde aber durch Reserven und Luftangriffe bis 19. 9. zerschlagen. Polen war gewiss ab 17. September verloren, als im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts sieben Sowjetarmeen mit einer halben Million Mann und über 4000 Panzern ins von Truppen großteils entblößte Ostpolen stießen. Die Polen gaben allmählich auf, am 28. 9. fiel Warschau. Am 6. Oktober war alles vorbei. Klar war Polens Niederlage unvermeidbar. Die Wehrmacht war bei Zahl und Material überlegen, ebenso die Luftwaffe (gut 2000 gegenüber 800 Fliegern, nach manchen Quellen nur 463 einsatzfähig). Viele Armeen der Polen standen zu nah an der Grenze, der Hammer traf sie ungebremst, es mangelte an Flak, Pak und Panzern (3200 deutsche versus 750 polnische). Doch die deutschen Verluste waren mit etwa 17.000 Toten gegenüber 70.000 Polen (UdSSR: ca. 3000) beträchtlich.Im Bild: Deutsche Eisenbahngeschütze Kaliber 150 bzw. 170 mm werden in Stellung gebracht. (c)flickr.ww2gallery Die meisten deutschen Panzer (Typ I und II, bewaffnet nur mit MGs bzw. 20-mm-Kanonen) waren unterbewaffnet und zu dünn gepanzert, vom schwereren Panzer III bzw. IV (50- bzw. 75-mm-Kanone) gab's nur etwa 300 Stück. Viele Divisionen verloren die Hälfte ihrer Fahrzeuge. Wobei die Wehrmacht nicht so wahnsinnig motorisiert war: Es gab nur sechseinhalb Panzerdivisionen, vier leichte Divisionen (Mix aus Panzer und Infanterie), etwa fünf motorisierte Infanteriedivisionen; der Rest marschierte wie 1914 zu Fuß. Die mobilen Truppen aber waren ein Schlüssel zum Erfolg.Im Bild: Der zweimotorige Bomber Heinkel He 111 war ein mittlerer Standardbomber der deutschen Luftwaffe. (c) Bundesarchiv Die Polen fochten hart: Der deutsche Feldzug 1940 im Westen dauerte nur eine Woche länger, dabei waren Franzosen, Briten, Belgier und Holländer zusammen klar überlegen. Anhand von Verlustzahlen und Munitionsverbrauch zeigte sich, dass die Zerstörung einer polnischen Division 1939 dreimal teurer kam als 1940 die einer größeren und besser bewaffneten alliierten.Im Bild: Polnische Tankette Typ TKS. Diese nur mit einem MG bewaffneten Kleinpanzer waren wie vergleichbare britische oder italienische Modelle von wenig Kampfwert und ob ihrer hauchdünnen Panzerung für ihre Besatzungen eher fahrende Särge. (c)Krajowa Agencja Wydawnicza, Warszawa 1979 Die Polen ritten auch nicht zu Pferd gegen Panzer: Der Mythos wurzelt im Gefecht bei Krojanty nahe Danzig, wo am 1. 9. ein Ulanenregiment marschierende Infanterie der 20. deutschen Division angriff und unerwartet auf Panzer traf, die es zusammenschossen. Die Reiter der etwa 13 polnischen Kavalleriebrigaden pflegten sich nämlich dem Gegner zu Pferd nur zu nähern, um abgesessen zu kämpfen. Und so veraltet war die Reiterei 1939 auch nicht: Selbst Staaten wie die USA, Frankreich und Deutschland hatten noch Kavallerie.Im Bild: Polnische Reiter in Sochaczew. (c)wikimedia.org Unwahr ist auch, dass Polens Luftwaffe schnell zerstört wurde. Im Gegenteil: Ihr Gros hatte man im August auf geheime Pisten verlegt, so wurden in den ersten Tagen nur Übungsflugzeuge und defekte Flieger am Boden zerstört. Mehr als zwei Wochen lang beschossen polnische Flugzeuge deutsche Kolonnen.Im Bild: Polnischer Bomber vom Typ "Los" (Elch). (c)wikipedia.org Polens Führung floh am 18. 9. nach Rumänien. Mehr als 100.000 Soldaten schlugen sich nach Rumänien, Ungarn, Lettland und Litauen durch und kämpften später für die Alliierten. Etwa 100 Flugzeuge landeten in Rumänien, wurden beschlagnahmt und in die dortige Luftwaffe übernommen; die polnischen Piloten gingen zur Royal Air Force.Im Bild: Polnische Infanterie auf dem Marsch. War der Krieg mit Polen zwingend? Und was war sein Platz in Hitlers Plänen? Gestützt auf die Groß-Biografie „Hitler“ von Joachim C. Fest von 1973, das Standardwerk „Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ des Briten Liddell Hart (1970) und Mansteins Buch von 1955, lässt sich folgendes destillieren: Ein großer Krieg in den 1930ern war das letzte, was Hitler wollte. Ja, er widerrief den Vertrag von Versailles, ließ ab 1935 die Wehrmacht aufrüsten, 1936 das entmilitarisierte Rheinland wiederbesetzen, schloss 1938 Österreich und das Sudetenland dem Reich an. Im Bild: Sowjetische und deutsche Soldaten treffen in Ostpolen zusammen, man sieht russische Aufklärungspanzerwagen BA-10. (c) Bundesarchiv (H�llenthal) In diesen Schritten hatte er durch die Passivität Frankreichs und Großbritanniens Rückenwind, ja mehr: Hart betont, dass die britischen Regierungen ein Erstarken und eine (mäßige) Expansion Deutschlands nach Süden und Osten guthießen – und das Berlin wissen ließen. Erst die Besetzung der Rest-Tschechei im Frühjahr 1939 verärgerte die Westmächte nachhaltig. (c)flickr.ww2gallery Laut Hitlers perverser Lebensraumpolitik müsse die Eroberung der Landesteile spätestens 1943 bis 1945 beginnen, und zwar primär in der Sowjetunion bei gleichzeitiger Freundschaft mit Großbritannien – das ergibt sich etwa aus „Mein Kampf“, aus einem Gespräch Hitlers mit der Spitze der Reichswehr Anfang 1933 und der „Hoßbach-Niederschrift“: Das sind Notizen über einen Vortrag Hitlers vor den Chefs von Heer, Luftwaffe und Marine sowie dem Kriegs- und Außenminister im November 1937, die Hitlers Heeres-Adjutant, Oberst Friedrich Hoßbach (1894-1980), anfertigte. (c) Bundesarchiv (Rascheit) Polen hätte dabei Deutschlands Partner sein können: Immerhin hatten beide ab 1934 einen Nichtangriffspakt, enge kulturelle und politische Beziehungen und teilten die Abneigung gegen Russland.Im Bild: Zerstörte polnische Uralt-Panzer Marke Renault in der Festung Brest-Litowsk. (c) Bundesarchiv Als aber Berlin ab Herbst 1938 Polen um die Rückgabe des Freistaats Danzig an der Ostsee und eine Straßenverbindung durch den schmalen polnischen Landkorridor zwischen Deutschland und Danzig bat, stellte Warschau aus nationalistischen und politischen Gründen auf stur; dabei hatte Außenminister Joachim von Ribbentrop Polen im März 1939 sogar den Besitz der Ukraine in Aussicht gestellt.Im Bild: Deutsche Panzer Typ IV fahren durch polnische Ortschaften. (c) Bundesarchiv (Kliem) Als Ende März 1939 die britische Regierung unter Neville Chamberlain den Polen überraschend einen Beistandspakt anbot und die ihn sofort annahmen, war der Kurs auf Krieg gestellt.Im Bild: Deutsche Sturzkampfbomber (Stuka) Typ Junkers Ju 87. In späteren Phasen des Kriegs erwiesen sich Stukas angesichts starker Flugabwehr als sehr verletzlich. (c) Bundesarchiv (Koll) Hitler wusste nun, dass London sich seinem Ost-Drang jedenfalls entgegenstellen würde, er konnte nicht weichen, ohne sein Gesicht zu verlieren, wusste aber auch, dass die Briten den Polen de facto vor Ort nicht helfen konnten. Also schloss er im August jenen Pakt mit seinem wahren Feind, Josef Stalin, in dem beide Polen untereinander aufteilten.Im Bild: Deutsche Fliegerstaffel über einer Ortschaft. (c) Bundesarchiv (Kliem) Nach Polen konnte sich Hitler ohne Gefahr im Rücken 1940 der Revanche an Frankreich widmen, und: Da nun Deutschland direkt an die UdSSR grenzte, war das Tor zu Hitlers zerstörerischer und brutaler Eroberungspolitik offen.Im Bild: Pilot im Cockpit eines Zerstörers Typ Messerschmitt Bff 110. Diese Mischung aus schwerem Begleitjäger und Erdkampfflugzeug erwies sich schon in der Luftschlacht um England 1940 als modernen Jagdflugzeugen weit unterlegen. (c) Bundesarchiv (Hausmann) Dass es aber nicht gelang, die 1940 in Frankreich geschlagenen, doch Briten zu besiegen oder zum Einlenken zu zwingen, sollte zur Zeitbombe werden. Manstein hieß es „die große Fehlentscheidung“, als Hitler im Herbst 1940 von einer Invasion Englands absah. Und so erfolgte am 22. Juni 1941 jener deutsche Angriff nach Osten, der die Welt nachhaltig veränderte.Im Bild: Polnischer Offizier ergibt sich vor deutschen Offizieren. (c)flickr.www2gallery Hunderttausende polnische Soldaten gerieten in deutsche und sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nicht wenige von ihnen kamen in Lagern um. Auf diesem seltenen Farbfoto begleitet eine Krankenschwester gefangene Polen. (c)flickr.www2gallery Der dramatische Verlauf des Zweiten Weltkrieges sei bekannt, so Fischer in der Aussendung der Präsidentschaftskanzlei: "Es war der bis heute verheerendste militärische Konflikt der Weltgeschichte. Er forderte insgesamt mehr als 55 Millionen Tote - rund die Hälfte davon Zivilisten - und es wurden nicht weniger als sechs Millionen Juden zwischen 1938 und 1945 systematisch ermordet."
Ereignisse haben "ohne Zweifel Spuren hinterlassen" Das Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 habe die Landkarte Europas, aber auch die Landkarte Asiens stark verändert, erinnerte der Bundespräsident. "Die zunächst durch das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges verursachte Teilung Europas wurde durch die Entwicklung der letzten 25 Jahre weitgehend überwunden, hat aber ohne Zweifel Spuren hinterlassen."
Abschließend resümierte Fischer: "Im Abstand von 75 Jahren seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und fast 70 Jahre nach dem Ende dieses Weltkrieges kann man allerdings zusammenfassend sagen, dass die Grundtendenzen seit 1945 in Richtung des Aufbaues demokratischer Gesellschaften, in Richtung des Abbaues reglementierter Zentralverwaltungswirtschaften und - von leider gravierenden Ausnahmen abgesehen - auch in Richtung des Grundsatzes friedlicher Problemlösungen unter maßgeblicher Einbeziehung der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gegründeten Vereinten Nationen gehen."
Lesen Sie mehr zu diesen Themen: