Streitgespräch: "In Vorarlberg wird nicht gestaltet"

Vorarlberger sind heimatverbunden und weltoffen gleichzeitig - oder ist es doch nur ein Klischee?
Vorarlberger sind heimatverbunden und weltoffen gleichzeitig - oder ist es doch nur ein Klischee?(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Im westlichsten Bundesland wird am Sonntag ein neuer Landtag gewählt. Sabine Scheffknecht (Neos), Johannes Rauch (Grüne) und Michael Ritsch (SPÖ) diskutieren über die Themen der Zukunft – und über die ÖVP-Allmacht.

Die Neos haben die Angewohnheit, den politischen Konkurrenten auch Rosen zu streuen. In diesem Sinne: Was funktioniert im Bundesland Vorarlberg, das seit 1945 von der ÖVP regiert wird?

Scheffknecht: Es hat vieles gut funktioniert in der Vergangenheit. In Vorarlberg ist die Gesellschaft schon sehr weit, innovativ, kreativ, weltoffen. Wir tendieren durch die Arlberggrenze eher dazu, uns an Deutschland, Schweiz und Italien zu orientieren. Gleichzeitig haben wir als Vorarlberger tief verankerte Werte. Die ÖVP hat gute Arbeit geleistet, man hat zum Beispiel gut auf die Finanzen geschaut. Aber wir denken, dass wir mit dem Mehr vom selben keine guten Karten haben. Darum setzen wir uns für Veränderung ein.

Apropos Werte und Weltoffenheit in Vorarlberg: Ist das in Wahrheit nicht ein Klischee?

Rauch: Es kommt darauf an. Wir stehen in vielen Dingen nicht so schlecht da, aber das ist nicht der Verdienst der ÖVP, sondern der Unternehmen und der Menschen in diesem Land. Die ÖVP kann nicht für sich vereinnahmen, dieses Land zu dem gemacht zu haben, wie es jetzt dasteht. Wir haben ganz viele mittelständische Unternehmen – auch in Familienbesitz, die eine andere Kultur haben, nicht diesem börsennotierten Hype nachrennen. Die haben den Standort im Auge. Der ÖVP ist durch die Alleinherrschaft jede Vision abhanden gekommen. Die innovativen Geschichten – etwa Energieautonomie – sind zwar einstimmig beschlossen worden, aber wurden von uns eingebracht. Gute Finanzen zu haben ist auch nicht großartig schwierig, weil die Finanzstrukturen gut sind. Illwerke (Kraftwerk, Anm.) spülen pro Jahr zwischen 50 und 70 Millionen Euro ins Landesbudget. Das haben inzwischen auch die Neos erkannt, dass die Werke nicht verkaufen werden sollen (Neos haben eine Privatisierung vorgeschlagen, Anm.)

Heißt das also auch: Das Land funktioniert deswegen gut, weil die Opposition die Themen vorgibt?

Scheffknecht: Die politische Verwaltung funktioniert gut, aber es wird nicht in die Zukunft geschaut, es wird nicht gestaltet.

Rauch: Ein konkretes Beispiel im Bereich Kinderbetreuung: Die Unternehmen haben selbst angefangen, Betriebskindergärten einzurichten, weil die Regierung es nicht geschafft hat, Plätze zu schaffen. Wir haben, Grüne und SPÖ, zehn Jahre dafür gekämpft, dass die Kindergärten für Dreijährige geöffnet werden. Zehn Jahre! Damals war die Begründung: Wir wollen keinen Zwangstagskindergarten. Jetzt haben wir über 90 Prozent der Dreijährigen im Kindergarten...

Ritsch: …und dann war es die ÖVP, die das erfunden hat. Was in Vorarlberg gut läuft, ist die politische Kultur. Das unterscheidet uns von anderen Bundesländern. Die Oppositionsparteien, trotz der Kritik, die wir äußern, versuchen immer, auf sachlicher Ebene Vorschläge einzubringen. Was die ÖVP bisher gut gemacht hat: Den Verzicht auf Atomkraft früh in die Landesverfassung zu nehmen und dass man immer an der Wohnbauförderung festgehalten hat. Bei den Schulden muss man sagen: Natürlich ist das Land relativ schuldenfrei, aber auf Kosten der Gemeinden. Die Vorarlberger Gemeinden haben insgesamt eine Milliarde Euro Schulden. Landesschulden sind auch Gemeindeschulden. Ansonsten sehe ich das eher behäbig. Die ÖVP hat in den 69 Jahren so viel Macht in diesem Land erhalten, sie stellt 92 von 96 Bürgermeistern, sieben von sieben Regierungsmitgliedern, stellt den Arbeiterkammer-Präsidenten, Wirtschaftskammer-Präsidenten und Führungen in sämtlichen öffentliche Institutionen. In der Gebietskrankenkasse gibt es keinen Abteilungsleiter mehr, der nur ansatzweise sozialdemokratisch gedacht hat, geschweige den gewählt.

Was doch ungewöhnlich ist, dass sich in einer industriell geprägten Region wie Vorarlberg keine Sozialdemokratie etabliert hat.

Ritsch: Die Masse ist nicht die große Industrie.

Die Frage ist, ob die Sozialdemokratie ihre typische Klientel hier auch vertreten kann?

Ritsch: Das typische Klientel, das die Sozialdemokratie vertritt, findet man in Vorarlberg in dieser Form nicht. Die klassischen Arbeiter hat man immer ins Land geholt, die Südtiroler, Kärntner, Steirer, Ex-Jugoslawen. Die Angestellten – die Vorarlberger – fühlen sich nicht als Arbeiter. Sie haben das Gefühl, sie brauchen keine Gewerkschaft, können sich das selber richten.

Und das ist kein gesamtösterreichisches Phänomen?

Ritsch: Nein, das ist nirgends so stark wie hier.

Scheffknecht: Wir haben viele Familienunternehmen hier, dadurch die Arbeiter immer das Gefühl, sie können mit ihrem Anliegen direkt zum Chef gehen. Das ist schon was ganz besonderes. Die Unternehmer schauen gut auf ihre Leute.

Rauch: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise war das schon heftig. Wir haben ja eine 80-prozentige Exportquote. In anderen Unternehmen wird man vor die Türe gesetzt. Bei uns hat man mit Kurzarbeitsmodellen diese Phase durchgestanden, das ist auch nicht selbstverständlich.

Ritsch: Und der Vorarlberger hat natürlich diese „Schaffa, Schaffa, Hüsle baua“-Mentalität.

Die hat er also wirklich?

Ritsch: Die hat er. Aber Weltoffenheit hat er, glaube ich, nicht. Vorarlberg ist auch scheinheilig, es gibt zum Beispiel kein Bordell.

Scheffknecht: Die Frage ist, ob man Weltoffenheit mit Bordellen misst.

Ritsch: Hier fängt aber der Vorarlberger Kleingeist an. Man sagt: Flughafen brauchen wir keinen, aber trotzdem fliegen die Vorarlberger. Das ist beim Bordell dasselbe.

Im Bereich der Gesellschaftspolitik wird etwa die Situation von Homosexuellen kaum öffentlich angesprochen.

Ritsch: Das ist genau diese scheinheilige Diskussion. Wir waren die einzigen, die im Wahlkampf inseriert haben: „Schwul, na und?“ Das war das Posting, das auf Facebook das meiste Aufsehen erregt hat. Jeder kennt einen der schwul ist und sagt: „Super. Total lässig.“ Aber wenn es darum geht, das öffentlich darzustellen, oder um die Diskussion, ob Schwule und Lesben heiraten dürfen, dann heißt es: „Das geht nicht.“

Scheffknecht: Ich glaube das ändert sich langsam – es muss sich auch ändern.

Rauch: Wer früher offen schwul, lesbisch gelebt hat, ist nach Wien, München oder Zürich gezogen. Aber es ändert sich natürlich. Aber zu dem Bild, dass es den Vorarlbergern so gut geht: 25 Prozent der Menschen geht es nicht gut in diesem Land. 50.000 Personen sind armutsgefährdet. 50 bis 60 Prozent des Haushaltseinkommens wird für die Miete aufgewendet, während wir eine jenseitige Grundsstückspekulation haben...

Wohnbau wird in den nächsten Jahren das große Thema werden, das Rheintal wächst enorm schnell.

Rauch: Der einzige Schlüssel ist, Wohnraum durch gemeinnützigen Wohnbau zu schaffen. Da sind wir uns mit der SPÖ einig.

Ritsch: Wobei wir einen anderen Zugang haben. Ich hätte gerne, dass bei allen Wohnbauten, die in Vorarlberg entstehen, 25 Prozent gemeinnützig sind. Dann hätten wir eine bessere Durchmischung. Das schafft man nur mit einer Grundsatzentscheidung: Es fließt nur Wohnbauförderungsgeld, wenn auch gemeinnütziger Wohnbau errichtet wird.

Rauch: Das Problem ist auch: Das Rheintal ist ein fast urbaner Raum, da wohnen 280.000 Menschen. Da kann ich nicht mehr in Gemeindestrukturen denken, das passiert aber immer noch. Die Wohnungsvergabe fällt in die Kompetenzen der Gemeinde. Jede Gemeinde meint, sie muss alles selber machen, und das möglichst doppelt. Von Kooperation keine Spur. Jeder versucht, über die Kommunalsteuer möglichst viel Einnahmen zu lukrieren. Das schadet unterm Strich allen.

Scheffknecht: Im Moment passen Angebot und Nachfrage nicht zusammen. Wir haben zwischen 5000 bis 7000 leerstehende Wohnungen und wir schaffen es nicht, die Wohnungssuchenden da hinzubringen. Da gibt es großen Handlungsbedarf.

Wir haben keine Universität in Vorarlberg. Wie sehr leidet das Land darunter?

Rauch: Sehr. Mitte der 1960er Jahre gab es Bestrebungen, eine Uni in Vorarlberg einzurichten. Der damalige Landeshauptmann Herbert Keßler hat es abgelehnt, mit der Begründung: Wir holen uns nicht das linke Gesindel ins Land. Das war eine vertane Chance für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg. Damit war klar: alle gehen nach Wien, Salzburg, Graz studieren und viele kommen nicht zurück. Eine Bodensee-Universität im Dreiländereck hätte unschätzbaren Wert.

Ritsch: Mit der Einrichtung der Fachhochschule ist die Türe für eine Uni aber zu.

Scheffknecht: Wobei die Fachhochschule eine gute Ausbildung bietet. Man könnte auch verstärkt mit den Universitäten in St. Gallen oder Friedrichshafen zusammenarbeiten, aber das passiert im Moment nicht.

Gymnasium?

Rauch: Gemeinsame Schule. Aufstiegschancen und Bildungsgerechtigkeit ist in dem System nicht gegeben. In Vorarlberg werden 170 Mio. Euro für Nachhilfe ausgeben, das können sich auch nur die leisten, die Geld haben. Da stimmen wahrscheinlich alle überein.

Scheffknecht: Genau. Wir gehen einen Schritt weiter und sagen: Die Autonomie soll in die Schulen. Personell, finanziell und pädagogisch.

Wie können Sie auf Themen wie Gesamtschule einwirken, die auf Bundesebene beschlossen werden?

Ritsch: Es gibt die Möglichkeit, Vorarlberg als eine Modellregion zu etablieren. Dafür braucht es im Nationalrat 92 Stimmen – und die haben wir nicht. Rot und Grün sind dafür, ÖVP sagt im Land: Ich bin dafür und in Wien sagt sie: Nein. Und mit den Neos gibt es keine Mehrheit. Gabriele Heinisch-Hosek sagt: Ihr seid nett in Vorarlberg, der Landeshauptmann sagt Gemeinsame Schule, sogar die FPÖ sagt das – aber in Wien sitzen sie im Nationalrat und zeigen nicht auf.

Scheffknecht: Vielleicht machen wir auch zu wenig Druck. Wenn sich in einem Land wie Vorarlberg alle einig sind und wenn die Bevölkerung dahinter steht und wir das nicht durchbringen, dann ist es schon fast absurd.
Ritsch: Da müssen die Nationalräte der ÖVP aufzeigen. Meine Nationalräte machen das, die Grünen auch. Da ist also der Landeshauptmann gefragt.

Alle Anwesenden kommen als Juniorpartner einer Koalition in Frage.

Ritsch: Hängt ja vom Wahlergebnis ab. Man tut immer so, als ob die ÖVP diese 40-Plus gepachtet hat. Die furchtbarste Variante ist für mich schwarz-blau. Das hatten wir auf Bundesebene und ich bin immer wieder überrascht, wie vergesslich die Menschen sind. In Vorarlberg wird trotz dieser Skandale – wir prozessieren heute noch – schwarz-blau gewählt. Unfassbar. Aber so lange die FPÖ so stark ist, wird es keine Alternative ohne ÖVP geben, weil niemand von uns mit der FPÖ in einer Regierungskoalition zusammenarbeiten will. Auf Landtagsebene arbeiten wir auf sachlicher Ebene zusammen, aber ich kann mir nicht vorstellen, mit Dieter Egger in einer Regierung zu sitzen.

Rauch: Es gibt nicht den Automatismus bei der Regierungsbildung.

Ritsch: Egal, wie es ausgeht, die ÖVP wird auf vier oder fünf Landesräte pochen. Das heißt, es wird in der Landesregierung immer eine 5:2 oder 6:1 Situation geben. Und es gibt bei uns nicht die Einstimmigkeit, die Mehrheit entscheidet. Ganz egal, wer mit der VP koaliert, es wird das passieren, was die ÖVP will. Wenn wir wirklich eine Veränderung wollen, müssen wir links der Mitte eine Mehrheit bilden.

Scheffknecht: Neue Wege mit Zweier- oder Dreierkoalitionen.

Ritsch: Ich habe immer gesagt: Rot-Grün-Neos wäre meine Variante. Wird sich aber wahrscheinlich nicht ausgehen.

Rauch: Das Spannende an dieser Wahl ist, dass sie nicht am Wahltag zu Ende sein wird, weil die ÖVP mit großer Wahrscheinlichkeit die absolute Mehrheit verliert. Dann stellt sich die Frage: Wie weiter?

Von diesem Wahlkampf haben es nicht viele Themen nach Wien geschafft, außer die geklauten Gartenzwerge der SPÖ. Die haben es sogar in die internationalen Medien geschafft.

Ritsch: Wir wussten, dass die Zwergengeschichte gut wird. Aber ein Hype wurde es, weil flächendeckend von Lochau bis Rankweil 400 Zwerge verschwunden sind, stattdessen hing an jeder dritten Laterne ein Plakat vom Landeshauptmann Markus Wallner. An 400 Zufälle glaube ich nicht. Dass der Landeshauptmann aber jetzt versucht, das so darzustellen, als hätten wir das selber inszeniert, ist so ungeheuerlich. Und das im Wissen, dass wir einen ÖVP-Gemeindevertreter auf frischer Tat ertappt haben. Wenn die Sozialistische Jugend Wallner-Plakate heruntergenommen hätte – ich wäre wochenlang zum Rücktritt aufgefordert worden.

Sind die Zwerge jetzt aufgetaucht?

Ritsch: Nein. Die liegen sicher in einem Keller. Oder auf einem Schutthaufen.

Haben die Neos einen Heimvorteil?

Scheffknecht: Unsere Ergebnisse waren im Land besser als im Rest des Landes. Jetzt ist natürlich Matthias Strolz aus Vorarlberg und ich glaube, dass unsere Themen und Anliegen sehr auf Vorarlberg zugeschnitten sind. Darum rechnen wir uns gute Chancen aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2014)

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