70 Jahre Zweite Republik: „Deprimierend großer Teil waren Täter“

KRANZNIEDERLEGUNG ANL. DES 70. JAHRESTAGES DER WIEDERERRICHTUNG DER REPUBLIK �STERREICH
KRANZNIEDERLEGUNG ANL. DES 70. JAHRESTAGES DER WIEDERERRICHTUNG DER REPUBLIK �STERREICH(c) APA/BKA/ANDY WENZEL (ANDY WENZEL)
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Heinz Fischer zelebrierte den Staatsakt – mit Verweis auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik. Deutschland-Präsident Gauck feierte mit.

Wien. Das Denkmal ist so gut wie unbekannt. Verloren steht die Metallplastik seit 1966 im Schweizergarten, im tosenden Autolärm des Landstraßer Gürtels. Sie erinnert an die Unabhängigkeitserklärung vom 27.April1945. Das Monument aus Voest-Stahl sollte am Ring neben dem Parlament stehen, gefiel der Regierung nicht und wurde in dieser entlegenen Gegend lieblos endgelagert.

Gestern, Montag, kam jedoch schon am Morgen hoher Besuch. Die Bundesregierung legte einen Kranz nieder, und man las den Text Karl Renners, der hier in Granit gemeißelt ist: „Angesichts der Tatsache, dass der Anschluss des Jahres 1938 [...] durch militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepresst, endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist“, erklärte die Regierung Renner den Anschluss für „null und nichtig“.

Republikaner in Habsburgs Hofburg

Dieser 27.April1945 ist einer der vielen glücklichen Tage im Leben der Zweiten Republik. Und diesen galt es gebührend zu feiern. Im Zeremoniensaal der Hofburg, im Herzen der einstigen habsburgischen Hofhaltung, versammelte sich alles, was in der Republik Rang und Namen hat. Wer zählt die Dienstkarossen und Chauffeure im inneren Burghof? Und wer die Unzahl deutscher Diplomaten, Offiziere und Securities?

Denn als Ehrengast konnte Bundespräsident Heinz Fischer seinen Berliner Amtskollegen, Joachim Gauck, und dessen Lebensgefährtin, Daniela Schadt, begrüßen.

Fischer, der bei Kriegsende in der ersten Volksschulklasse war, erinnerte an die inzwischen unbestrittene Tatsache, dass zahlreiche Österreicher den Anschluss im Jahr 1938 an Deutschland bejubelt hatten – und Österreich daher nicht nur erstes Opfer Hitlers gewesen sei. „Viele Österreicher waren ohne Zweifel Gegner und auch Opfer des NS-Systems, doch ein deprimierend großer Teil waren Sympathisanten, Unterstützer und auch rücksichtslose Täter. Dazu kommt, dass bewusstes Wegschauen, Gedankenlosigkeit oder Opportunismus es dem herrschenden Regime erleichtert haben, seine Ziele zu verfolgen und zu erreichen. Das Wissen um diese Wahrheit ist es, was uns zu dem Grundsatz ,Wehret den Anfängen‘ verpflichtet.“

Gar nicht schmeichelhaft dann seine Kritik am Verhalten der Österreicher nach dem Kriegsende: Man hätte die Pflicht gehabt, den Emigranten automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft zurückzugeben oder zumindest anzubieten, meinte Fischer.

Ehre den gefallenen Sowjetsoldaten

Dann widmete der gelernte Jurist sich dem Begriff der „Befreiung“ Wiens durch die Rote Armee. 1945 sei das Land von einem verbrecherischen Regime befreit worden. Die darauf folgende zehnjährige Besatzungszeit sei zwar „eine schwere Last“ gewesen, aber sie habe auch den Wiederaufbau Österreichs als demokratisches Land mit europäischen Werten nicht verhindert – „und damit den Weg von der Befreiung im Jahr 1945 zur vollen Freiheit im Staatsvertragsjahr 1955 ermöglicht“. Daher sei an jene 18.000 sowjetischen Soldaten erinnert, die beim Kampf um Wien gefallen seien. Er werde ihrer am 8. Mai gedenken – „in Wien und nicht bei einer Militärparade in Moskau“.

Mit der Aufarbeitung der Geschehnisse durch Österreich zeigte Fischer sich zufrieden und verwies auf den Nationalfonds für die NS-Opfer oder die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Auch die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der NS-Militärjustiz hob Fischer hervor, obwohl er mit dem Standort am Ballhausplatz nicht glücklich gewesen sein soll.

Aktuelles durfte nicht fehlen. Die schrecklichen Bilder des täglichen Flüchtlingselends hätten wir alle vor Augen, sagte das Staatsoberhaupt. Er sei sich sicher, dass man noch in Jahrzehnten darüber sprechen und urteilen werde, „wie wir damit umgehen“.

Dass zum ersten Mal mit Joachim Gauck auch das Staatsoberhaupt eines Nachbarlandes an den österreichischen Feiern teilnehme, freue ihn besonders, sagte Fischer: Es sei „ein besonderer Moment, dass wir diesen Geburtstag der Zweiten Republik mit dem höchsten Repräsentanten jenes Landes begehen, mit dessen Geschichte wir in vielfältiger Weise so eng – zeitweise auch verhängnisvoll – verbunden waren“.

Auch Gauck betonte das entspannt-freundliche Verhältnis zwischen den beiden Staaten, „von Fußballländerspielen einmal abgesehen“. Man sei sich der Wichtigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik bewusst. Denn: „Wenn keine Garantie mehr besteht, dass überall in Europa das Völkerrecht geachtet wird, dann haben die Mitglieder der EU neu über die gemeinsame Sicherheit nachzudenken“, sagte er. „Was uns in der Vergangenheit bei Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen bewegte, kann uns jetzt bei der Ukraine nicht unberührt lassen!“

Nicht die gemeinsame Sprache allein verbinde Österreich und das wiedervereinte Deutschland, sondern auch die gemeinsame Geschichte über Jahrhunderte hinweg. Auch das gemeinsame Wertefundament und gemeinsame Ideale würden die beiden Länder verbinden. Sie hätten die gemeinsame Verantwortung, „die Ordnung und die Werte, auf denen sie beruhen, in Zukunft zu sichern“. Der anschließende Empfang in der Präsidentschaftskanzlei war dann dementsprechend entspannt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2015)

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