Nudging: "Wir werden ständig gelenkt"

Wirtschaftspsychologe Erich Kirchler
Wirtschaftspsychologe Erich KirchlerDie Presse
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Darf der Staat seine Bürger durch Nudges, also subtile Anreize, zu einem besseren Leben erziehen? Wirtschaftspsychologe Erich Kirchler sagt: durchaus.

Was ist der Unterschied zwischen einem Nudge und einer simplen Information?

Erich Kirchler: Ein Nudge ist eine Information, die mit einer bestimmten Lenkungsabsicht konstruiert wurde. Nämlich so, dass man aus mehreren Handlungsoptionen spontan eine bestimmte wählt. Die Autoren des Buchs „Nudge“, Richard Thaler und Cass Sunstein, vergleichen das mit einer Elefantenmutter, die ihrem Jungen einen Nudge, also einen Stups in die „richtige“ Richtung – etwa zum Wasserloch – gibt. Natürlich kann ein Stupser so oder so verwendet werden. Die Werbung nutzt ihn, um Kunden für ihre Interessen zu manipulieren. Der Staat kann Nudging aber verwenden, damit Menschen die für sie bessere Wahl treffen.

Das setzt voraus, dass der Staat stets weiß, was das Richtige für die Menschen ist.

Aber das nehmen wir ja auch bei Gesetzen an. Tatsächlich glaube ich, dass die meisten Politiker zum Wohl der Bürger agieren wollen – auch wenn das nicht immer gelingt.

Nudges befassen sich aber oft mit Entscheidungen, die man per Gesetz nie regeln würde, z. B. die Wahl von gesünderem Essen. Hat man nicht das Recht, hier in Ruhe gelassen zu werden? Ein Recht auf Unvernunft?

Zu glauben, dass es Entscheidungen ganz frei von Beeinflussung gibt, ist doch eine Illusion. Wir werden ständig gelenkt, etwa schon dadurch, wo was im Supermarkt platziert ist.

Das heißt: Weil es alle machen, darf der es Staat auch?

So würde ich das nicht sagen. Aber man muss sehen, dass Optionen in einer bestimmten Reihenfolge wahrgenommen werden. Weshalb sollte man nicht darüber nachdenken, was die Reihung mit uns anstellt? Tatsächlich hat sie einen immensen Einfluss. Wenn wir uns entscheiden – ob für ein Auto, ein Haus oder einen Partner –, dann vergleichen wir nicht alle möglichen Optionen. Wir nehmen die „erstbeste“, die zumindest unseren Mindestanforderungen genügt. Für mehr reichen Zeit und Motivation nicht. Manchmal ist es auch gar nicht möglich, Optionen gleichberechtigt nebeneinander zu präsentieren. Zum Beispiel bei der Organspende: In Österreich ist man „per Voreinstellung“ Organspender, außer man spricht sich explizit dagegen aus. In Deutschland ist es umgekehrt. Jetzt raten Sie, wo es den größeren Mangel an Spendern gibt.

Das weiß man: Deutschland. Liege ich richtig, wenn ich Sie einen Nudging-Fan nenne?

Ich halte Nudges im Sinne der Bürger für sehr sinnvoll. Man bewegt sich weg von einem Paternalismus, der dem Bürger verbietet und gebietet, hin zu einem libertären Paternalismus. Die Elefantenmutter zwingt das Junge ja nicht zum Wasser. Wenn es nicht will, geht es nicht hin. Wenn ich in der Mensa Gemüse in die erste Reihe stelle und die Pommes frites in die Zweite, werde ich mehr Gemüse verkaufen. Aber wenn jemand die Pommes will, kann er sie nehmen.

Aber vertritt Nudging im Gegenteil nicht ein besonders paternalistisches Menschenbild? Der Bürger wird als denkfaules Kind behandelt, nicht als mündiger Mensch so wie in der Rechtsordnung.

Wenn Sie glauben, dass Menschen immer rational handeln und immer genug Zeit haben, alle nötigen Informationen zu sammeln, hängen Sie einem Menschenbild an, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Dieses veraltete Menschenbild mag bei Juristen und Ökonomen noch Mainstream sein, doch die Realität sieht trotzdem anders aus: Der finanzielle und ökonomische Analphabetismus ist weit verbreitet. Wenn man nun aber weiß und beobachtet, dass Menschen aus Zeitmangel oder Faulheit in ihren Entscheidungen systematisch von dem abweichen, was für sie besser wäre, soll man das als regulierende Behörde dauerhaft ignorieren?

Aber sollte man Menschen nicht mit Argumenten vom Richtigen überzeugen, anstatt sie dorthin zu tricksen? Es ist doch traurig, Fußballtore am Straßenrand aufzustellen, damit Menschen, die Müll aus dem Auto werfen, es wenigstens nur dort tun. Wäre es nicht besser, ihnen den Sinn von Umweltschutz verständlich zu machen?

Aber das widerspricht sich doch nicht. Warum soll ich es den Menschen nicht leichter machen? Regeln werden oft deshalb nicht befolgt, weil sie die Freiheit einschränken. Das ist das Reaktanz-Phänomen: Menschen sind bestrebt, ihre Freiheit, wenn sie durch Regeln beschränkt wird, wiederherzustellen. Das gilt für Kinder wie Erwachsene. Daher funktionieren Nudges oft besser als Gesetze und Regeln.

Nudges schränken die Wahlfreiheit aber auch ein, nur subtiler. Kann man bei einem Nudge wirklich von einer freien Entscheidung sprechen?

Ja, sofern klar erkennbar ist, dass es einen Nudge gibt und dass dennoch Wahlfreiheit besteht. Wo das verschleiert wird, beginnt Manipulation.

Was wäre ein Beispiel für einen manipulierenden Nudge?

Die voreingestellte Auswahl einer Option, die man erst ändern muss, wenn man eine andere als die vorgeschlagene Option wählen möchte, ist sehr effektiv. Wenn aber der Aufwand, um so eine Voreinstellung zu ändern, sehr hoch ist, z. B. wenn ich auf einer Website die Opt-out-Option kaum finde, ist die Grenze zur Manipulation überschritten.

Kritiker des stupsenden Staates sehen auch ein Problem darin, dass der Bürger – anders als bei Gesetzen – im Unklaren gelassen wird, ob er einen Nachteil hat, wenn er den guten Rat der Behörde nicht befolgt.

Wissen Sie, die Kritik am Nudging kommt meist von jenen normativen Disziplinen, die in der politischen Beratung dominieren. Ich kann mir vorstellen, dass es bei der Kritik auch um die Wahrung eigener Berufsinteressen geht.

So gesehen dient das Propagieren von Nudging dem Eigeninteresse der Psychologen und Soziologen, die sich einen Job in der Politikberatung schaffen wollen.

Klar. Man könnte aber auch fragen, ob es sich regulierende Instanzen leisten können, die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften aus der Regulation auszuklammern. In Stockholm, London oder Kopenhagen sitzen in der Verwaltung und in den Ministerien Sozialwissenschaftler und arbeiten an der Gestaltung von Richtlinien und Gesetzen mit. In Österreich haben nach wie vor Juristen und Ökonomen das Sagen.

Ist das der Grund, warum man bei uns noch wenig von Nudging hört?

Ich glaube schon. Mein Spezialgebiet sind Steuern. In der niederländischen Finanz gibt es einen ganzen Stab von Sozialwissenschaftlern, die daran arbeiten, dass Steuernzahlen nicht als Akt der „Dummen“ gesehen wird, während bei uns Steuervermeidung als ein Beweis für Klugheit gilt. Der Staat hat es nicht geschafft, dass die Bevölkerung Steuern als nötigen Beitrag für die Gemeinschaft versteht. Die Einhaltung von Normen kann man aber nicht nur Behörden wie der Polizei überlassen. Sie müssen vielmehr soziale Normen werden, deren Verletzung die Bevölkerung nicht akzeptiert.

Vielleicht hängt die mangelnde Steuermoral aber auch mit der hohen Quote zusammen und damit, dass die Menschen finden, dass mit ihrem Geld nicht gut umgegangen wird?

Die Steuerrate hat weniger Einfluss auf das Steuerverhalten als das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger oder aber deren Verhältnis zur Behörde.

Das heißt, die Bürger müssen lernen, das Finanzamt zu lieben?

Anders herum: Das Finanzamt muss lernen, die Bürger zu lieben. Wenn Beamte mit der Einstellung „Alles Verbrecher“ an Prüfungen herangehen, löst das bei den Menschen Misstrauen aus. Die Behörde müsste auf Augenhöhe mit den Bürgern agieren und es müsste klar sein, dass man ein gemeinsames Ziel hat. Das setzt aber voraus, dass die Behörde versteht, dass sie den Bürgern dient und nicht Untertanen befehligt. Das setzt einen echten Paradigmenwechsel voraus.

Steht uns der auch bei der Gesundheit bevor? Es wird üblicher, seine Körperfunktionen via App zu überwachen. Manche Versicherungen bieten dafür Rabatte an. Dadurch werden personalisierte Nudges denkbar. So könnte mich künftig die Zahnbürste erinnern, dass mein Rabatt bei der Versicherung wackelt, wenn ich heute nicht mehr putze.

Das wäre pure Manipulation und die totale Entmündigung.

Ist das nicht vielmehr Nudging konsequent zu Ende gedacht?

Man kann jedes Konzept ins Absurde übertreiben, mit Nudging im ursprünglichen Sinn hat das nichts zu tun.

Kommen wir zu einem realen Vorschlag aus der ÖVP. Man will das Erreichen von Gesundheitszielen mit geringerem Selbstbehalt belohnen. Das klingt zunächst vernünftig, allerdings weiß man, dass die Möglichkeit, gesünder zu leben, auch mit dem Einkommen zusammenhängt. Ist dieser Anreiz fair?

Nudging kann nicht alle Probleme und Ungleichheiten beseitigen, das ist wahr. Aber es kann ein Anreiz zu gesünderem Leben sein.

Was mir auffällt, ist, dass es meist die Bürger sind, die „gestupst“ werden sollen. Warum „nudgt“ man nicht Konzerne? Funktioniert das bei ihnen nicht, weil sie mehr Ressourcen für Entscheidungen haben?

Das ist ein viel diskutiertes Thema. Ich war soeben bei einer internationalen Tagung, bei der es auch darum ging, wie man global agierende Unternehmen motiviert, Steuergesetze nicht zu umgehen. Leider sitzen diese oft am längeren Ast und agieren zur Gewinnmaximierung wohlüberlegt und nicht spontan.

Nudging

Dasberühmteste Beispiel ist die Fliege im Urinal, die für mehr Treffsicherheit am Herren-WC sorgt. Bekannt wurde das Nudge-Prinzip2008 durch das Buch „Nudge“ des US-Ökonomen R.Thaler und des Harvard-Juristen C.Sunstein. USA und Großbritannien „stupsen“ ihre Bürger durch Anreize schon länger. Seit 2014 macht auch Angela Merkel mit.

Steckbrief

Erich Kirchler
ist Wirtschaftspsychologe, Vizedekan der Fakultät für Psychologie der Uni Wien und stellvertretender Vorstand des Instituts für Angewandte Psychologie. Sein Spezialgebiet sind Steuern.

Clemens Fabry

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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