Die Magna Charta: Eine erste Urkunde über die Freiheit

König John unterschreibt in Runnymede im Kreis der rebellischen Barone die Magna Charta.
König John unterschreibt in Runnymede im Kreis der rebellischen Barone die Magna Charta. Royalty/TopFoto/ picturedesk.com
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Kaum ein Rechtstext der westlichen Welt wird so verehrt wie die englische Magna Charta. Vor 800 Jahren wurden darin Freiheiten und Rechte Einzelner gegenüber dem Staat verbrieft. Aber sie wirkte vor allem als Mythos.

„King John was not a good man – he had his little ways“, schrieb der Autor von „Winnie the Pooh“, Alan A. Milne (1882–1956), in einem Gedichtchen.

Das klingt milde, wenn man es mit dem vergleicht, was die Nachwelt sonst so über diesen Mann geschrieben hat. John, der seinem Bruder Richard Löwenherz 1199 auf Englands Thron folgte und 1216 vermutlich an Ruhr starb, gehört zu den unbeliebtesten Königen der englischen Geschichte. Gehässigkeit und Grausamkeit, Mord an seinem Neffen und Thronanwärter Arthur, Ehebruch, Betrug, Glaubensabfall und Inkompetenz warfen ihm schon Zeitgenossen vor, für viele war er der Inbegriff des bösen Königs. So geistert er auch durch die Populärkultur, etwa durch die Robin-Hood-Geschichten.

Historiker betonen zwar seine Fähigkeiten als Militärbefehlshaber und Verwalter, aber insgesamt ist sich die Nachwelt doch mit dem berühmten Mittelalter-Historiker John Gillingham ziemlich einig: „John King was a shit.“

Urahn der Menschenrechte. Ohne ihn aber hätte es ein Dokument nicht gegeben, das bis heute vor allem in England fast kultisch verehrt wird – als früher Garant für die Freiheit des Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür: Die Magna Charta, die am 15.Juni 1215 in Runnymede (Grafschaft Surrey, südlich Londons) besiegelt wurde, formuliert in Artikel 39 ein noch heute gültiges Prinzip eines Rechtsstaats: „Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst wie angegriffen werden; noch werden wir ihm etwas anderes zufügen oder ihn ins Gefängnis werfen, außer durch das rechtmäßige Urteil durch seinesgleichen oder durch das Gesetz des Landes.“ Dem entsprechen heute im Prinzip etwa die Artikel 5 und 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Freiheit und Sicherheit bzw. Recht auf faires Verfahren).

Ebenso berühmt ist Artikel 40 der in Latein gehaltenen Charta, wonach der König Recht oder Gerechtigkeit nicht verkaufen, verweigern oder verzögern dürfe. Die Magna Charta Libertatum, die Große Urkunde der Freiheiten, schrieb also erste Freiheiten und Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat fest, etwa Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht, Eigentum zu besitzen und zu vererben, das Verbot willkürlicher Steuern, Reisefreiheit, die Freiheit der Kirche. Das Dokument wird oft als Grundstein der Verfassung Englands und damit auch als wesentlich für die Entwicklung der amerikanischen und generell der westlichen Demokratie gesehen, als „Eckstein im Tempel der Freiheit“.

Ein Mythos. Eigentlich sei John nicht schlechter als sein vor ihm regierender Vater und Bruder gewesen, schreibt der Historiker Nicholas Vincent. „Er war nur weniger erfolgreich.“ Gut für die Nachwelt, denn so konnten ihn seine Untertanen zwingen, die Charta zu unterschreiben – ein Dokument, das zuerst dazu dienen sollte, Johns politische Exzesse zu verhindern. Generationen über Generationen haben sich auf das Papier berufen. Mit der Bill of Rights etwa verbot das Parlament 1689 dem König, Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments auszusetzen, beschloss freie Wahlen für Parlamentarier, und dass die Redefreiheit im Parlament weder vor Gericht noch sonst wo hinterfragt werden darf. Die Charta war ein wichtiges Vorbild für das Gesetz, sie steht am Anfang eines langen Prozesses, der zur modernen Demokratie geführt hat.

Dabei ist nicht nur entscheidend, was in der Magna Charta steht, sondern noch viel mehr das, wovon Leute später glaubten, dass es drinstehe: Schon kurz nach 1215 wurde der „Große Freiheitsbrief“ zum Mythos, man berief sich auf ihn, ohne den Inhalt genau zu kennen. Heuer pilgern die Menschen zum 800.Geburtstag in die British Library, in der eine große Ausstellung die Geschichte des Dokuments und die Originalschriften zeigt. Sogar Schnuller mit dem Text werden verkauft, im politischen Diskurs war sie ohnehin immer wieder präsent, vor allem in England. Da schrieb etwa kürzlich ein Kommentator des „Telegraph“ vom „kollektiven King John von Europa“ und meinte damit die in seinen Augen diktatorische EU-Kommission.

Immer wieder gab es Bemühungen in England, den „Geburtstag“ der Carta zum Feiertag zu machen. Dabei wurde der Text schon im August 1215 auf Betreiben Johns von Papst InnozenzIII. für nichtig erklärt. Auch schrieb er nicht die Rechte aller Untertanen fest, sondern nur der Freien, also nicht Leibeigenen. Johann Ohneland – wie man ihn nannte, weil er die großen englischen Gebiete in Frankreich verloren hatte –, erregte den Unmut der Adeligen u.a. durch hohe Steuern, mit denen er seine Rückeroberungsversuche bezahlen wollte. Barone (das waren Adelige, die ihr Land vom König erhielten) waren es auch, die ihn gezwungen hatten, die Magna Charta zu unterschreiben.

Die Magna Charta war ursprünglich auch kein allgemeines Rechtsdokument sondern ein Friedensvertrag. „Dort hat alles angefangen!“, rief im II. Weltkrieg George VI. aus, als er kurz nach dem D-Day im Juni 1944 nach Windsor Castle fuhr. Der königliche Wagen fuhr gerade an Runnymede vorbei, auf halbem Weg zwischen dem Königsschloss und London, wo die Barone ihren Stützpunkt hatten und am 15. Juni 1215 dem König die Unterschrift abrangen.

Fischreusen und Ausweisungen. Wenn man sich die gut 60 Paragrafen ansieht, kann man stutzig werden: Das soll ein Garant für die Freiheit sein? Heute mutet der Text als kurioser Mix aus äußerst Allgemeinem und Kleinkram an. Da stand z.B., dass „alle Fischreusen von der Themse und vom Medway entfernt werden müssen“. Bestimmte Personen werden aufgezählt, die aus ihren Ämtern entfernt werden sollten. Auch wenn man liest, welche ausländischen Berufsgruppen, die „mit Pferd und Waffen gekommen sind“, ausgewiesen werden sollen, klingt das weit entfernt vom heutigen Demokratieverständnis. Doch dazwischen finden sich eben auch jene sehr grundlegenden Formulierungen, auf die spätere Jahrhunderte sich immer wieder berufen konnten.

Nach gut zwei Monaten war die erste Charta schon totes Recht, der Friedensvertrag brachte Krieg statt Frieden. Die Barone ließen eine französische Armee nach London kommen, das Land versank wieder im Chaos, John starb ein Jahr später. Sein Sohn HenryIII. ratifizierte aber eine überarbeitete Version der Magna Charta, nun freiwillig, als Zeichen seiner guten Herrschaft. Jetzt erst wurde aus der Charta Gesetz, rasch festigte sie ihren Ruf als Freiheitsurkunde. Dass jene, die sich auf sie beriefen, diverse Versionen vermischten und meist nicht gelesen hatten, machte nichts. Ihre Rezeption war immer eine Geschichte der Missverständnisse, und sie wirkte als Mythos. Nach ihrem Vorbild entstanden Freiheitsbriefe in den amerikanischen Kolonien, sie wurde Vorbild für die Bill of Rights (1689) und vor US-Gerichten ebenso zitiert wie in Europa. Unter Louis XVIII. (1814–24) erhielt auch Frankreich eine Charte, die die Willkür des Monarchen beschnitt.

Fast an die USA verschenkt. 1939, als der Krieg ausbrach, war die originale Magna Charta (eine von vier Originalen) gerade in New York zu sehen. Da kam in England, das die USA zum Kriegseintritt bewegen wollte, die Idee auf, das Papier Amerika zu schenken. Churchill gefiel die Idee. Zwar kam es doch nicht dazu, aber allein der Plan eines solchen Akts zeigt, was für eine Stellung die Magna Charta im Selbstverständnis Englands einnimmt: als einer seiner wichtigsten Schätze.

Als Churchill im selben Jahr über das Wesen der Demokratie sprach, nannte er unter den Texten, auf denen sie beruhe, zuerst die Magna Charta.

zur Person

Johann Ohneland (genannt John Lackland, *24.12.1167 in Oxford als Jean Plantagenêt) war von 1199 bis zu seinem Tod im Jahr 1216 König von England, Lord von Irland, Herzog der Normandie und von Aquitanien sowie Graf von Anjou. Er war ein Sohn des englischen Königs Heinrich II. und der Eleonore von Aquitanien. Da beide Eltern im Grunde Franzosen waren (Heinrich II. sprach kaum Englisch), war auch Johann französisch geprägt.

Richard Löwenherz,sein Bruder und König, starb 1199, John folgte ihm nach. Rasch brach Krieg mit Frankreichs König, Philipp II., aus, der fast alle englischen Lande in Frankreich (etwa die Normandie) eroberte, daher der Name „Ohneland“. Zudem begann der Adel (die Barone), gegen John zu revoltieren, was 1215 zur Magna Charta führte, einem Friedenspakt und Freiheitsbrief. Er wurde schon im August für nichtig erklärt, der „Krieg der Barone“ brach aus, in dem John im Oktober 1216 vermutlich an Ruhr starb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)

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