Eine europäische Erziehung

(C) Greber
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Vielleicht sind Sie schon im Urlaub, falls nicht, steht er Ihnen hoffentlich bald bevor, und in beiden Fällen bietet sich Ihnen nun die Gelegenheit, aus der Kurzatmigkeit des Alltags herauszutreten und sich Grundsätzlichem zuzuwenden.

Dem Lesen von Romanen zum Beispiel, einer Beschäftigung, für die wir angesichts all der blinkenden, bunten Bilder auf unseren Smartphones immer weniger Zeit aufzubringen vermögen.

Also ein Romanvorschlag, aber einer, den man sich erarbeiten muss, von einem verzweifelten Anhänger Europas. In diesen Tagen sollte man sich daran erinnern, dass das europäische Einigungswerk den Ausweg aus der totalen Katastrophe darstellt, in die wir uns vor einem Jahrhundert gleich in zwei Weltkriegen stürzten. Am 1. Jänner 1945, also mitten im zweiten der beiden, veröffentlichte der junge französische Diplomat und Kampfflieger Romain Gary im Verlag Calmann-Lévy sein Debüt „Éducation européenne“. Er führt den Leser zurück an den Beginn des Winters 1942, in die Wälder rund um die damals von den Deutschen unterjochte Stadt Wilno, das heutige Vilnius, wo der polnische Bub Janek mit einer Gruppe von Partisanen in Erdhöhlen versteckt ums Überleben und die Freiheit kämpft. Gary kannte diese Gegend gut, schließlich war er dort 1914 als Sohn aschkenasischer Juden mit dem Namen Roman Kacew zur Welt gekommen. Seine Mutter war mit ihm 1928 nach Nizza ausgewandert, und mit unbeschreiblicher Verve trieb sie ihn dazu an, viel zu lernen, damit er eines Tages französischer Botschafter werde. So geschah es; Gary heiratete später die Schauspielerin Jean Seberg und schrieb nebenbei exzellente Romane, die ihm gleich zweifach den Prix Goncourt einbrachten.

Auf Deutsch ist „Éducation européenne“ erst 1962 mit dem Titel „General Nachtigall“ erschienen. Ich bin gescheitert, einen Verlag ausfindig zu machen, der ihn im Programm hat; bis auf antiquarische Ausgaben fand ich nichts, aber das kann an meiner Unzulänglichkeit liegen. Es wäre nämlich schade, bliebe dieser große europäische Roman dem heutigen deutschsprachigen Publikum verschlossen.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2015)

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