Asyl und Migration: Lösung „wird uns viel Geld kosten“

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Innenministerium stimmte bei Expertentagung auf längeren Zustrom ein. Die Beseitigung von Fluchtgründen könne nur vor Ort geschehen, werde Zeit und vor allem Geld kosten.

Wien. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, als ob es am Montag im Innenministerium im Rahmen einer Expertentagung zumindest ein klein wenig auch darum ging, die Probleme bei der Unterbringung von Asylwerbern zu rechtfertigen. Die unausgesprochenen Gedanken könnten so gelautet haben: Der Zustrom von Schutzsuchenden (und Migranten) ist in Österreich (oder Europa) nicht zu beeinflussen, sozusagen eine Tatsache der Gegenwart, an der die Diskussion über die Verteilung von Schlafplätzen in Ländern und Gemeinden nichts ändert. Bestimmende Faktoren sind vielmehr: Krisen, Kriege, wirtschaftliche Rahmenbedingungen und persönliche Perspektiven der Betroffenen vor Ort. Nur wer dort etwas ändert, kann die Zuwanderung langfristig im eigenen Sinne steuern – also dämpfen.

Ein prominenter Vertreter dieser Gedanken ist der deutsche Universitätsprofessor Franz Josef Radermacher. Er wurde international wegen seines Eintretens für eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft und die Globale-Marshallplan-Initiative bekannt. Am Montag sprach er in Wien darüber, auf welche Zukunft sich Europa wird einstellen müssen, und welche Lösungsansätze er sieht.

„Alle wollen zu uns“

Als Ursachen für jetzige und künftige Entwicklungen nennt Radermacher einerseits das starke Bevölkerungswachstum in Afrika und Asien, andererseits die wirtschaftlichen und politischen Probleme, mit denen Flüchtlinge in ihrer Heimat konfrontiert sind. „Die Folge ist: Alle wollen zu uns, nur funktioniert das langfristig nicht.“

Eine, wie er selbst sagt, unwahrscheinliche, aber dennoch machbare Linderung des wohl noch deutlich steigenden Migrationsdrucks sieht Radermacher in der Adaptierung der Marktwirtschaft. Stark vereinfacht gesagt müssten Entwicklungsländer und Krisenregionen stärker vom Wachstum der Weltwirtschaft profitieren als die Industrienationen. Das schaffe langfristig Konvergenz in Sachen Wohlstand, gebe den Menschen Hoffnung und Gründe, ihre Heimat nicht zu verlassen. Radermacher sagte aber auch dazu: „Eine solche Initiative wird uns in den hoch entwickelten Staaten viel Geld kosten, und es ist auch gut möglich, dass wir mit diesem Konzept gegen die Wand fahren.“

Dennoch spielen neben einer soliden Wirtschaft und persönlichem Wohlstand auch andere Faktoren eine Rolle für Migranten. Insbesondere bei Schutzsuchenden. „Außerhalb Europas strebt man nicht überall nach dem Besitz mehrerer Smartphones“, formulierte es Christian Stadler, Rechtsphilosoph an der Universität Wien. „Für viele ist vor allem die Sicherheit im eigenen Land ein entscheidender Faktor.“ Andere Worte für einen Gedanken, den hohe Offiziere im Verteidigungsministerium schon länger hegen: Will Europa in Krisenregionen Fluchtgründe beseitigen, braucht die Union ernst zu nehmende militärische Kapazitäten.

Apropos Smartphones: Mobile Kommunikationstechnologie spielt bei der Wahl der Zielländer für Migranten und Flüchtlinge nach Auffassung mehrerer Experten eine entscheidende Rolle. Mobiltelefone mit Internetanschluss – es gibt weltweit etwa vier Milliarden – liefern nämlich jene Informationen und Bilder in die hintersten Winkel der Erde, die als Entscheidungsgrundlage für die Wahl des Fluchtlandes dienen. Befragungen haben ergeben, dass dabei vor allem die Aussicht auf Wohlstand entscheidend ist. Die wenigsten Personen aus Entwicklungsländern informieren sich jedoch darüber, wie man in einer Wissensgesellschaft überhaupt bestehen kann.

Über 80.000 Asylanträge

Im Rahmen der Tagung veröffentlichte das Innenministerium auch seine aktuellsten Prognosen zum Asylthema. Für das gesamte Jahr 2015 werden inzwischen über 80.000 Asylanträge erwartet. Das entspräche dem höchsten jemals gemessenen Wert und ist mehr als das Doppelte des Vorjahres (28.000 Anträge). Ein Ende der Entwicklung ist noch nicht abzusehen. „Wir können die Antwort auf die Frage, wie viele Menschen noch zu uns kommen werden, nicht geben“, sagte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2015)

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