Im Niemandsland von Österreich-Ungarn

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Täglich versuchen hunderte Asylwerber, über die Grenze im Burgenland nach Österreich zu kommen. Eine Reportage über das Leben an der Grenze – und am Rande der Gesellschaft.

Es knallt. Der Polizist springt kurz vor der Abfahrt in den Railjet, der gerade halt in Hegyeshalom in Ungarn macht. Schreie, noch ein Knall, und plötzlich fällt ein Mann durch die offene Tür des Zuges. Er bleibt auf dem Pflaster liegen, brüllt. Der Polizist – österreichische Uniform – stolpert aus dem Wagen, und wie der Mann reibt auch er sich die Augen: Pfefferspray. Dann entschuldigt sich der Polizist bei allen Umstehenden, auch Kollegen und Passagiere hat er mit dem Spray erwischt: Der Mann habe sich auf der Zugtoilette eingesperrt, habe nicht aussteigen wollen, „und Gesetz ist Gesetz“. Natürlich, Pfefferspray in geschlossenen Räumen sei eine heikle Sache. „Der war aber ja auch kräftig“, meint der Beamte.

Kurz davor waren im Railjet 66, Strecke Budapest–Frankfurt am Main, kurz nach der Station Györ die Träume von 17 Menschen zerplatzt. In einer Aktion der „trinationalen Streife“, jener ungarisch-österreichisch-deutschen Polizeitruppe, die von Budapest aus Identitätskontrollen im Zugverkehr durchführt, waren sie aufgeflogen – als Illegale. Die Augen der 16 Männer und der einen Frau waren groß, manche feucht und rot, als die drei Polizisten sie von ihren Plätzen auf den Gang des Railjets beorderten, um sie bei der nächsten Station – Hegyeshalom – aussteigen zu lassen und in Ungarn zu registrieren. Danach geht es ins Flüchtlingscamp, zurück nach Györ.

Ein Mann – hellrosa Hemd, zurückgegeltes dunkles Haar, Sonnenbrille – ist irritiert von dem Tumult im Zug: „Man muss sich fragen: Wer bringt die Waffen, vor denen diese Menschen fliehen? Wir sehen hier bloß das Resultat.“ Er selbst sei Syrer und lebe in Düsseldorf. Der deutsche Polizist bittet ihn um seine Papiere, blättert sie rasch durch. Als der Mann weg ist, sagt der Polizist: „Vielleicht war das ein Schlepper. Die Stempel in seinem Pass: Tadschikistan, Usbekistan, Türkei. Die sagen eigentlich alles.“ Ihn festzunehmen habe aber keinen Sinn: Niemand würde eine Aussage machen wollen.

Zug zum Glück?

Der Railjet ist für viele Flüchtlinge zu einer Art Express in die Freiheit geworden. Von Ungarn aus weiter gen Westen ist meist Deutschland das Ziel. „Die glauben, das ist das Land, in dem Milch und Honig fließen“, meint ein Securitymitarbeiter des Wiener Westbahnhofs, der zuvor einer syrischen Familie geholfen hat, den richtigen Zug zu erwischen. „Warten Sie nicht auf den nächsten, nehmen Sie den, der jetzt fährt. Sie haben ja die kleinen Kinder dabei. Ein Bahnhof ist kein Ort für Kinder.“ Menschlichkeit sei das, und selbstverständlich – auch für die Polizisten am Westbahnhof, in deren Station erst vor Kurzem syrische Familien untergekommen sind, weil die Einrichtungen der Stadt voll waren.

Menschlichkeit, auf dem Bahnsteig von Hegyeshalom? Eine Frau, gut 50 Jahre alt, zetert vor sich hin. „Afrikanischen, asiatischen Männern gehört der Kopf abgeschnitten.“ Menschlichkeit, am Bahnhof von Hegyeshalom: Nach dem Trubel im Zug, der Befragung, der Ernüchterung, stehen Polizisten und Flüchtlinge wie ein verschworenes Grüppchen vor der Halle und rauchen. Die meisten von ihnen sind 18 oder 19, allein auf der Flucht, seit Monaten. Hier, in Ungarn, ist für sie vorerst Endstation.

Auf der anderen Seite

An Österreich haftet der Duft der Freiheit. Der erste Geruch, der jenen entgegenschlug, die am Freitag die Grenze von Ungarn ins Burgenland bei Nickelsdorf überquerten, war der der Verwesung. Auf dem ehemaligen Grenzgelände waren Polizisten stundenlang damit beschäftigt, jene toten Flüchtlinge zu bergen, die am Donnerstag in einem Lkw auf der Ostautobahn (A4) bei Parndorf gefunden worden waren. Immer wieder kamen Beamte aus dem Gebäude, rauchten stumm eine Zigarette und wischten sich über die Augen. „Das ist nicht mehr auszuhalten“, sagt einer von ihnen.

„Das ist alles nicht mehr auszuhalten“, sagt auch Sahar in perfektem Englisch. Die 32-Jährige sitzt mit hunderten anderen Flüchtlingen auf der anderen Seite der A4 unter dem Flugdach der Sammelstelle für aufgegriffene Flüchtlinge. Sahar flüchtete mit ihrem Mann Omar und ihren drei Kindern, zwei bis sieben Jahre alt, aus dem Nordirak, als der IS kam. Ihr Mann war Ingenieur bei einer Ölfirma, sie Managerin eines Logistikunternehmens – bis vor Kurzem waren sie wohlhabende Menschen. „Jetzt rennen wir vor dem Tod davon“, sagt Sahar. Ihre zweijährige Tochter Leya weint: Sie hat Hunger. Alles, was die Familie zu essen hat, ist ein Apfel, den Leya noch nicht kauen kann.

Eigentlich sollten die Flüchtlinge hier in der provisorischen Erstaufnahmestelle nur wenige Stunden verbringen und dann weitergeleitet werden – ständig kommen und fahren Busse. Einige berichten aber, dass sie hier bereits übernachtet hätten. Es mangelt an allem – Hygiene, Essen und Kleidung. In einigen Tagen soll die Aufnahmestelle in eine richtige Halle übersiedelt werden – genau auf die andere Seite der Autobahn, dorthin also, wo Polizisten die Leichen geborgen hatten. Auch Ungarn plant eine derartige Einrichtung auf der anderen Seite der Grenze.

„Man stumpft ab, es ist zu viel. Jeder für sich hat eine schlimme Geschichte, und wir sind im Dauereinsatz“, sagt ein Beamter, der Flüchtlinge in der Sammelstelle bewacht. Bis zu 200 Personen täglich werden meist ab drei Uhr Früh allein im Bezirk Neusiedl aufgegriffen – Polizisten aus dem ganzen Burgenland sind hier im Einsatz. „Teilweise müssen wir in der Nacht Posten zusperren“, sagt der Beamte aus Oberpullendorf. Seine größten Probleme waren bis vor wenigen Monaten Temposünder oder Alkolenker – ab und zu ein Einbruch als Höhepunkt. Mit derartigen menschlichen Tragödien umgehen zu müssen, ist für ihn relativ neu und extrem belastend.

Idyll versus Asyl

Wenige Kilometer von der A4 entfernt ist die Welt noch heil. Nickelsdorf ist ein beschaulicher Ort mit urigen Heurigen und bunten Häusern. Das Idyll trügt, denn seit Monaten müssen die Burgenländer mit dem Flüchtlingszustrom umgehen. „Man fragt sich dauernd, was man tun kann und was die richtige Meinung zu dem Thema ist“, sagt ein Mann an einer Tankstelle. „Die Flüchtlinge tun mir leid, aber sie stören mich auch irgendwie“, sagt er – und manchmal komme dann die Scham, weil man sich wünschte, sie wären weg. „Uns geht es hier wie ihnen. Wir wissen auch nicht, wie es weitergeht.“ Auch in Parndorf, wo der Lkw voller Leichen gefunden wurde, weiß man nicht so recht, wie es im Burgenland weitergehen soll. „Diese Toten und Verletzten dauernd – es ist furchtbar, natürlich“, hört man etwa im Gasthaus Patzolt. „Wenn sie dann mal hier sind, sind sie okay, aber auf der Autobahn sind sie schon lästig“, sagt ein junger Mann, der gerade sein Auto wäscht. „Ich hab' immer Angst, dass ich einen niederfahre.“

71 Flüchtlinge starben in einem Lkw, mehrere wurden bei einem Unfall schwer verletzt, ein Mann überfahren, mehrere von einem Zug erfasst – mit der zunehmenden Zahl an Menschen mehren sich die Vorfälle. Auch dieses Wochenende können Badegäste am Neusiedler See erwarten, Menschen auf der A4 entlanggehen zu sehen. Man erwartet eine neue Welle; Vorsicht beim Fahren ist geboten. Die Blumen und Kerzen, die an der Fundstelle des Lkws am Straßenrand deponiert wurden, erinnern ebenfalls daran.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2015)

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