Mikl-Leitner: „Meine Vorstellung von Europa ist das nicht“

PK INNENMINISTERIUM: ´POLIZEILICHE KONTROLL- UND FAHNDUNGSMASSNAHMEN GEGEN SCHLEPPER´
PK INNENMINISTERIUM: ´POLIZEILICHE KONTROLL- UND FAHNDUNGSMASSNAHMEN GEGEN SCHLEPPER´(c) APA/ROBERT JAEGER (ROBERT JAEGER)
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Innenministerin Mikl-Leitner (ÖVP) ärgert sich über Deutschland, Ungarn und die Bundesländer. An einen Wechsel nach Niederösterreich denkt sie trotzdem nicht. Vorläufig zumindest.

Die Presse: In Europa ist diese Woche endgültig das Flüchtlingschaos ausgebrochen. Muss sich die EU nicht eingestehen, dass ihre Flüchtlingspolitik gescheitert ist?

Johanna Mikl-Leitner: Wir wissen, dass die Dublin-Verordnung – sie besagt, dass ein Flüchtling in jenem Staat einen Asylantrag stellen muss, in dem er zuerst EU-Boden betreten hat – massive Schwächen hat. Aber sie ist das letzte Mittel, um für Österreich ein Mindestmaß an Entlastung zu erreichen. Das Dublin-Prinzip kann nur fallen, wenn es eine verpflichtende Quote für alle EU-Staaten gibt.

Einstweilen trickst man sich gegenseitig aus. Ungarn winkt Züge mit Flüchtlingen nach Österreich durch, Österreich schickt sie nach Deutschland weiter, das die Dublin-Verordnung für Syrer ausgesetzt hat.

Das stimmt nicht, wir kontrollieren stichprobenartig in den Zügen, aber als Schengen-Binnenland können wir keine flächendeckenden Grenzkontrollen durchführen. Ich habe immer davor gewarnt, die Dublin-Verordnung ersatzlos auszusetzen, so wie von Deutschland vor einer Woche verkündet. Die Wirkung sehen wir jetzt: Der Transferdruck von Ungarn nach Deutschland steigt.

Wie geht es Ihnen mit den Stacheldrähten an der ungarischen Grenze zu Serbien?

Meine Vorstellung von Europa ist das nicht. Wir sollten die Außengrenzen vor allem mit Personal kontrollieren. Es ist auch eine Illusion zu glauben, dass sich Flüchtlinge von Zäunen und Mauern abhalten lassen. Sie finden Wege, um diese Hürden zu überwinden.

Das gilt allerdings auch für Schlepper. So gesehen können die Fahrzeugkontrollen, die sie nun verstärkt an der österreichischen Grenze angeordnet haben, allenfalls eine Übergangslösung sein.

Wir müssen etwas tun, um Menschenleben zu retten. Aber wir wissen natürlich, dass die Schleppermafia andere Routen suchen wird. Die Geschäftsgrundlage können wir ihr nur entziehen, wenn wir eine legale Einreise in die EU ermöglichen: über Registrierstellen an der Außengrenze, in Italien und Griechenland. Von dort sollten die Flüchtlinge verteilt und jene, die aus wirtschaftlichen Gründen in die EU wollen, abgewiesen werden.

Dem werden die Griechen und Italiener aber nur zustimmen, wenn es zu einer Quotenregelung kommt. Und die ist derzeit alles andere als mehrheitsfähig.

Entweder die EU steht hier zusammen oder sie wird an der Flüchtlingsfrage scheitern. Wenn die Nationalisten die Oberhand gewinnen, könnte es mit einem friedlichen Europa schneller vorbei sein, als so manche glauben.

Österreich hat vorgeschlagen, den säumigen Staaten EU-Förderungen zu streichen. Haben Sie schon Verbündete gefunden, vielleicht in Deutschland und Frankreich?

Wir sind mit den Deutschen und den Franzosen in Kontakt und werden das bei der Sondersitzung im September thematisieren. Es kann nicht sein, dass zehn Mitgliedstaaten 92Prozent aller Asylverfahren abwickeln. Mir ist jedes Mittel recht, um die anderen 18 Staaten in die Verantwortung zu nehmen, die meinen, sich nur die Rosinen aus der EU herauspicken zu können. Förderungen sind eine Möglichkeit. Aber ich bin für alle Ideen offen.

Ist absehbar, wie lange diese Massenflucht nach Europa noch andauern wird?

Angesichts der Situation im Nahen und Mittleren Osten, angesichts der Lebensumstände in Afrika müssen wir damit rechnen, dass sie noch die nächsten Jahre andauern wird. Umso wichtiger wäre, dass Europa jetzt rasch handelt, damit die Fluchtgründe wegfallen.

Einer dieser Fluchtgründe sind die Jihadisten des Islamischen Staats, die in Syrien und im Irak wüten. Kanzler Werner Faymann hat sich für militärische Interventionen ausgesprochen. Unterstützen Sie das?

Eine militärische Intervention wird – im Rahmen eines UNO-Mandats – notwendig sein, um dort eine Befriedung zu erreichen. Aber die Flüchtlingsströme werden deshalb nicht abreißen, sondern weiter andauern.

Nicht nur in Europa, auch in Österreich funktioniert die Verteilung nicht. Wieso ist es so schwierig, Quartiere zu finden?

Es gibt eine große Hilfsbereitschaft, es gibt aber auch die große Sorge in den Ländern und Gemeinden, dass da unterschiedliche Kulturen und Religionen aufeinandertreffen.

Wie kann man der Bevölkerung die Angst nehmen?

Man muss klarmachen, dass Flüchtlinge Menschen sind, die um ihr Leben rennen.

Glauben Sie, dass die Tragödie auf der A4 mehr Bewusstsein für die Situation der Flüchtlinge geschaffen hat?

Diesen Eindruck habe ich, ja.

In Wien haben am Montag 20.000 Personen für einen menschlicheren Umgang mit den Flüchtlingen demonstriert. Würden Sie sagen, dass Bundesregierung, Länder und Gemeinden überfordert sind?

Überfordert ist der falsche Ausdruck. Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation. Woanders ist es noch schlimmer. In Frankreich etwa sind 25.000 Flüchtlinge obdachlos.

Hätte man in Österreich besser vorbereitet sein können?

Die Macht liegt hier nicht beim Innenministerium, wie viele glauben, sondern bei den Ländern und Gemeinden. Ich habe schon im Juni letzten Jahres darauf hingewiesen, was auf uns zukommen wird. Aber manche haben gedacht, dass das schnell vorbeigehen wird.

Was werfen Sie den Ländern vor?

Wir brauchen mehr Ehrlichkeit in der Asylpolitik. In den deutschen Bundesländern dominiert das Prinzip der Pflichterfüllung. Da werden in Eigenregie Zelte aufgestellt. In Österreich dominiert das Prinzip des Bemühens: Wir haben uns eh bemüht, aber . . .

Deshalb hat die Regierung jetzt einen Koordinator eingesetzt. Christian Konrad soll in den Ländern und Gemeinden lobbyieren. Was erwarten Sie von ihm?

Seine Hauptaufgabe liegt darin, Quartiere zu organisieren – er soll ein Brückenbauer zwischen Bund, Ländern, Gemeinden, NGOs und der Zivilbevölkerung sein.

Kann das Innenministerium diese Brücken nicht selbst bauen?

Bis Jahresende brauchen wir 35.000 bis 40.000 Quartiere. Da wird es viele Brückenbauer brauchen.

Wann wird Traiskirchen so entlastet sein, dass alle zufrieden sind?

Da gebe ich keine Prognosen ab, das kann sich stündlich ändern. Tausende machen sich gerade erst auf den Weg nach Europa.

Man sagt, auch Sie könnten sich demnächst auf den Weg machen – zurück nach Niederösterreich. Können Sie sich vorstellen, Landeshauptfrau zu werden?

Diese Frage stellt sich derzeit nicht.

Aber vielleicht 2016, wenn Erwin Pröll für das Bundespräsidentenamt kandidiert.

Soll ich Ihnen etwas sagen: Ich bin gern Innenministerin, auch wenn ich mir nie hätte vorstellen können, das einmal zu werden.

Können Sie sich Erwin Pröll als Bundespräsidenten vorstellen?

Erwin Pröll wäre für viele Ämter geeignet.

STICHWORT

Die Dublin-Verordnung ist ein für alle EU-Staaten verbindlicher Rechtstext, der festlegt, dass jenes Mitgliedsland für die Bearbeitung von Asylverfahren zuständig ist, in dem Schutzsuchende erstmals EU-Boden betreten haben. Die Verordnung wird immer wieder heftig kritisiert, weil sie Staaten an der EU-Außengrenze wie Ungarn, Italien, Griechenland oder Bulgarien besonders stark in die Pflicht nimmt. Außerdem ist es in der Praxis oft schwierig festzustellen, über welches Land ein Flüchtling tatsächlich in die EU eingereist ist.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2015)

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