Bürgerkrieg in Syrien: Folter, Versklavung und Bombardements

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Syrische Flüchtlinge dürfen nicht zurückgewiesen werden, fordert UN-Untersuchungskommission und dokumentiert Verbrechen in Syrien.

Genf/Wien. Eigentlich soll die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats für Syrien Verbrechen an der syrischen Bevölkerung dokumentieren. Doch in ihrem neuesten Bericht konnten sich die Experten einen Seitenhieb auf die Staatengemeinschaft angesichts der Flüchtlingskrise nicht verkneifen. „Das globale Scheitern, die syrischen Flüchtlinge zu schützen, verwandelt sich jetzt zu einer Krise in Südeuropa“, heißt es in dem am Donnerstag vorgestellten Bericht. Die Verantwortung dafür, die Menschenrechte der Flüchtlinge zu schützen, sei nicht angemessen verteilt, kritisieren die Experten. Notwendig seien eine echte internationale Zusammenarbeit und eine Verteilung der Last. Gleichzeitig forderten die Kommissionsmitglieder die Staaten auf, Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland nicht zurückzuweisen.

Die „unangemessene Antwort der internationalen Gemeinschaft“ verschärfe die ohnehin schlimme Lage des syrischen Volkes, sagte der Kommissionsvorsitzende, Paulo Sérgio Pinheiro. Die Hoffnung auf eine Rückkehr der Flüchtlinge schwinde täglich, innerhalb des Landes gebe es immer weniger sichere Zufluchtsgebiete. „Ist es ein Wunder, dass viele Syrer vor dem Chaos auf der Suche nach Schutz die Flucht ergreifen, vor allem über das Mittelmeer und nach Europa?“ Ihr Elend werde noch verschlimmert durch „verabscheuungswürdige Verbrechen“ während ihrer beschwerlichen Reise. „Die verwesten Leichen von 71 Menschen, die in einem Lkw auf der Autobahn in Österreich gefunden wurden, sind ein Beweis dieser grenzüberschreitenden Katastrophe.“

23 Seiten Grauen in Syrien

Die Dokumentation des Grauens ist 23 Seiten lang. Punkt für Punkt zählt die Untersuchungskommission darin die Verbrechen auf, die an Zivilisten in dem Bürgerkrieg begangen werden. Massenexekutionen, Folter in großem Ausmaß, Vergewaltigungen, Versklavung, wahllose Bombardements, Belagerungen mit dem Ziel, die Bevölkerung auszuhungern – „Zivilisten erleiden das Unvorstellbare, und die Welt schaut zu“, sagte Pinheiro.

Der insgesamt zehnte Report des Gremiums beschreibt das erste Halbjahr 2015 und lässt kaum mehr Raum für weitere Steigerungen. Fast die gesamte Zivilbevölkerung sei Opfer von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwersten Menschenrechtsverletzungen geworden, fassen die Experten die Ergebnisse zusammen. „Hauptursache für zivile Opfer, willkürliche Vertreibungen und Zerstörung sind wahllose und unverhältnismäßige Angriffe“, sagte Pinheiro und verwies auf die jüngsten Bombardements des Regimes auf Douma und andere Orte außerhalb von Damaskus mit vermutlich hunderten Toten.

Es sind alle Seiten in diesem Konflikt, die sich der Verbrechen an Zivilisten schuldig machen: die Regierungsarmee, Rebellengruppen und Terrormilizen wie der Islamische Staat (IS) oder die mit der al-Qaida verbündete al-Nusra. Die meisten Opfer sind laut Bericht männliche Zivilisten im kampffähigen Alter, die teils gezielt ins Visier genommen werden. Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Tötungen seien gang und gäbe. Der IS schreckte in Raqqa, Deir ez-Zor und Hasakah aber auch nicht davor zurück, Kinder zu ermorden. Andere wurden zwangsrekrutiert.

Besonders besorgt äußerte sich die Kommission über das Schicksal der Menschen in belagerten Gebieten. Tausende seien auf diese Weise gezwungen, unter unmenschlichen Bedingungen zu leben. Die Belagerung – wie etwa der Städte Foua und Kafra im Gouvernement Idlib im Nordwesten durch Rebellengruppen – hätten das Ziel, die Bevölkerung zur Aufgabe zu zwingen.

Keine Antwort liefert der Bericht zu Vorwürfen über den Einsatz von Giftgas, sondern verweist nur darauf, dass die Untersuchungen fortgesetzt würden. Zwar sprechen die Experten von „Hinweisen“ auf einen Einsatz, vor allem in der Gegend um Aleppo. Kommissionsmitglied Carla del Ponte erklärte aber, es seien Recherchen vor Ort notwendig, um sich darüber ein Urteil bilden zu können. Bis heute lässt die syrische Regierung die Kommissionsmitglieder nicht ins Land; der Bericht basiert auf Gesprächen mit 335 ins Ausland geflüchteten Opfern.

„In Syrien herrscht Straflosigkeit“

Mehr als die Hälfte der 23 Millionen Syrer sind in den vergangenen viereinhalb Jahren vertrieben worden. Die Kommission beziffert die Zahl der Binnenflüchtlinge auf 7,6 Millionen. Einmal mehr appellierte das Gremium an den UN-Sicherheitsrat, die Situation an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag zu verweisen, der für schlimmste Verbrechen zuständig ist: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord. Einen solchen Schritt verweigern bisher die Vetomächte Russland und China.

„In Syrien herrscht totale Straflosigkeit“, sagte del Ponte. „Das ist eine Schande für die internationale Gemeinschaft.“ Ob dort denn auch ein Völkermord vor sich gehe, wurden die Kommissionsmitglieder von Journalisten gefragt. Dafür, sagte del Ponte, wären wieder Ermittlungen vor Ort notwendig. „Aber nach meiner ganz persönlichen Einschätzung: Ja, es könnte ein Völkermord sein.“

AUF EINEN BLICK

Die Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats zu Syrien wurde 2011 geschaffen mit dem Ziel, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massaker und Verletzungen der Menschenrechte während des syrischen Bürgerkrieges zu untersuchen. Das vierköpfige Gremium, das von dem brasilianischen Diplomaten Paulo Sérgio Pinheiro geleitet wird, führt seit Jahren auch

vertrauliche Listen mit Namen mutmaßlicher syrischer Kriegsverbrecher für ein mögliches strafrechtliches Vorgehen in der Zukunft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2015)

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