Der Tag, an dem die Grenze (kurz) verschwand

AUSTRIA REFUGEES MIGRATION CRISIS
AUSTRIA REFUGEES MIGRATION CRISIS(c) APA/EPA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)
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Notlager in Nickelsdorf, Ausnahmezustand am Westbahnhof: Bis zu 10.000 Flüchtlinge haben am Samstag von Ungarn aus die Grenze überquert.

Es dauert. Das Warten auf den Augenblick, von dem man irgendwann vielleicht sagt, dass Geschichte geschrieben wurde. Samstags um zwei Uhr morgens lässt dieser Moment auf sich warten. Erst ein ausrangierter Bus, der in den Grenzposten Hegyeshalom an der ungarisch-österreichischen Grenze rollt, liefert den Auftakt. Als eine ganze „Ladung“ von Flüchtlingen aussteigt, wird klar: In dieser Nacht beginnt etwas Außergewöhnliches.

Zwei Stunden später setzt er dann wirklich ein, der Moment, in dem ein Bus nach dem anderen kommt und hunderte Menschen aus den Türen stolpern. Viele Männer, aber auch Frauen und Kinder. „Nach Stockholm“, sagt Hajdar, der seinen kleinen schlafenden Sohn auf der Schulter trägt. Aus dem Irak ist er geflohen. Wie lang er unterwegs war, kann er nicht sagen. Lang. An den Blicken sieht man, was sie durchgemacht haben müssen. Erleichterung zeigt sich bei wenigen. Wer weiß schon, ob man nun wirklich sicher ist?

„Nemsa?“, fragt einer und deutet auf den Boden. Nein, noch nicht Österreich. Drüben, hinter dem Posten, da verläuft die Grenze. „Und man kann da wirklich rübergehen?“ Ja, kein Problem. „Und die Polizei?“ Der Mann macht eine Bewegung, als würde er jemanden schubsen. Nein, auch sie tut niemandem etwas. Es dauert, bis die Menschen realisieren, dass keine Gefahr droht. Sie haben viel erlebt, das sie misstrauisch hat werden lassen. Nach gefährlichen Bootsfahrten, eingepfercht in Lkw, von Schleppern betrogen, von Behörden drangsaliert, sie mussten auf Bahnhofsböden oder im Freien schlafen.

Dass da plötzlich Menschen stehen, die ihnen wärmende Decken umhängen, Mineralwasserflaschen reichen, Kisten mit Obst, Brot, Süßigkeiten hinstellen, ist ungewohnt. Einige Dutzend Helfer sind zum Grenzübergang gekommen. Aus Ungarn. Aus Österreich. Von Organisationen oder privat. Als am Freitag die Situation in Ungarn zu eskalieren begann, war da noch Anspannung. Da war eine Gruppe von mehreren hundert Flüchtlingen, die sich zu Fuß auf den Weg von Budapest nach Österreich machte. Da waren viele andere, die am Ostbahnhof blieben – weil sie Angst hatten, dass sie in ein Lager gebracht werden könnten. So, wie es einigen am Donnerstag ergangen war. Am Freitag schließlich, als der Druck zu groß geworden war, öffnete Ungarn das Ventil. Man werde die Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze bringen und warte auf eine Reaktion Österreichs. Diese kam schließlich: Man werde Menschen nicht im Stich lassen, die Einreise erlauben. Die Explosion des Kessels war abgewendet. Fürs Erste. Wie viel Druck da war, zeigt sich im Lauf des Samstags. Der Strom der Flüchtlinge reißt nicht und nicht ab. Ein Bus nach dem anderen, Massen an Menschen überqueren die Grenze. Von 4000 Flüchtlingen wird in der Nacht gesprochen. Im Lauf des Tages, schätzt das Innenministerium, werden es an die 10.000 sein. Sie werden begleitet von der Polizei: an Lebensmitteln vorbei, bei denen sie zugreifen können, über eine Wiese bis zu einer Halle, in der früher Lkw überprüft wurden. Der eine oder andere verirrt sich, die Autobahn muss aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Am Vormittag geht nichts mehr.


Ausnahmezustand am Westbahnhof. Für die Flüchtlinge geht es flotter weiter als für die Autos im kilometerlangen Stau. Kurz nach sechs Uhr, wird eine erste Gruppe in einen Zug gesetzt, der sich in Richtung Wien aufmacht. Viele weitere Züge und Busse sollen folgen. Am Westbahnhof herrscht am Samstag von der Früh weg Ausnahmezustand. 3400 Menschen halten sich, so die Schätzung von Caritas und Polizei, zeitgleich auf dem Areal auf. Einen wirklichen Überblick hat niemand mehr. Es waren Szenen, wie man sie in Wien vielleicht vom Donauinselfest kennt, sonst aber nie erlebt. Menschenmassen drängen sich über Bahnsteige, an der Felberstraße hält ein Bus nach dem anderen. Wie viele? Das zählt niemand mehr.

Die Flüchtlinge wurden blockweise über den Bereich, von dem man zu den Bahnsteigen geht, zur zentralen Hilfsstation auf Bahnsteig 1 geleitet. Applaus von Helfern für die Ankommenden braust auf, wenn sie aussteigen. Freiwillige Helfer – von alten Damen mit Obst, jungen Vätern bis zu Kindern, die Gleichaltrigen Lollis geben – verteilen Nahrung, Windeln, Zahnbürsten an die Vorbeigehenden. Strecken den Flüchtlingen Hände mit Wasserflaschen und Bananen entgegen, so, wie man Marathonläufern Stärkung zusteckt. Die Ankommenden klatschen mit Helfern ab, die einen erleichtert, anderen sieht man die Strapazen an. Rotunterlaufene Augen, Verletzungen, weinende Kinder. Einige sind kaum in der Lage, ein Wort zu sagen, kauern in Ecken, verstecken sich unter Decken.

„Schlaf. Einfach drei Tage durchschlafen und alles vergessen“, sagt Ashamaz Saeed, ein junger Syrer, der mit einer Gruppe, die sich auf der Reise gefunden hat, unterwegs ist. Einen Monat waren sie unterwegs, zehn Tage in Ungarn. Die Situation dort? „Das willst du nicht wissen.“ Zuvor hatten sie Schlepper irgendwo in Ungarn ausgesetzt. Mit der Angabe, schon in Österreich zu sein. Wo die Reise enden soll? „Wo man Englisch spricht, wäre gut“, sagt er in akzentfreiem Englisch, das er von Hollywood-Filmen und Musik gelernt habe.

Andere sprechen kein Wort Englisch. Dutzende junge Wiener arabischer Herkunft sind auf dem Bahnhof unterwegs, sie haben Aufkleber an ihren Jacken, auf denen steht, welche Sprache sie übersetzen können. Es ist eine ungeheure Hilfsbereitschaft – Unmengen an Sachspenden werden abgegeben, in den Geschäften am Bahnhof kaufen Freiwillige kartonweise Babynahrung und Hygieneartikel, Einkaufswagen voller Nahrung. Merkur stellt Getränke zur Verfügung, die Landwirtschaftskammer schickt 1,5 Tonnen Lebensmittel. Wie viele Helfer auf dem Bahnhof sind, wie viel abgegeben wurde, kann niemand mehr schätzen.


Mikl-Leitner: „Herz bebt.“ „Wir tun unser Bestes, wir helfen alle zusammen“, sagt Innenministerin Johanna Mikl-Leitner am Bahnhof, nachdem sie ein junger Syrer mit der Bitte um Hilfe angesprochen hat. „Mein Herz bebt bei diesen Bildern“, so Mikl-Leitner. Sie spricht vom Zusammenstehen, von der großen Leistung aller Helfer und der Polizei, die sich betont zurückhält. Wie es politisch weitergeht? „Stacheldrähte sind keine Lösung. Die Zeit des Egoismus ist vorbei. Dublin III hat viele Fehler, wir haben keine Zeit, müssen Tempo machen, Entscheidungen treffen“, sagt sie. Und fordert, Anlaufstellen an EU-Außengrenzen zu schaffen, die ihrer Aussage nach binnen weniger Tage zu errichten seien, die Situation in Flüchtlingslagern vor Ort zu verbessern und die Ursachen zu bekämpfen.

Mikl-Leitner ist, wie etliche Politiker, Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser, Nationalratspräsidentin Doris Bures, Eva Glawischnig, Maria Vassilakou, Christoph Chorherr von den Grünen, Harald Mahrer und Manfred Juraczka von der ÖVP, zum Bahnhof gekommen. Der Tenor der Wortspenden, immer derselbe: Unglaubliche Szenen, man müsse helfen, sei stolz auf die Hilfsbereitschaft, zugleich müssen europäische Lösungen her. Es ist eine der wohl seltenen Gelegenheiten, bei der Wiens Caritasdirektor Michael Landau Ähnliches spricht wie die Innenministerin: Stacheldraht sei keine Lösung, Europa müsse zusammenstehen, Menschlichkeit zeigen. „Es ist ein schwieriger, aber auch ein guter Tag, wenn man den Geist der Solidarität sieht.“ Die Caritas steht, mit Rotem Kreuz, Samariterbund etc. vor einer enormen Aufgabe: Obwohl die meisten Flüchtlinge nach Deutschland wollen, werden hunderte, wenn nicht einige tausend, die Nacht in Wien verbringen. Am Westbahnhof wurden Notquartiere geschaffen, auch mit allen Pfarren und dem Wiener Krankenanstaltenverbund wurde zusammengearbeitet, um Unterkünfte zu organisieren.

Es ist die eine Seite Österreichs, die die Flüchtlinge willkommen heißt und versorgt, die andere trifft man am Bahnhof aber genauso. „Gemma gemma“, ruft eine junge Frau, klatscht, als würde sie Tiere verscheuchen. Ein offensichtlich illuminierter älterer Herr spricht von „Oaschlechern“, zwei Fußballfans – solche kommen immer wieder mit Zügen an, „Immer wieder Österreich“-Gesänge inklusive – sagen, ihnen würden „diese Vögel“ nicht leidtun, reden von Zäunen und vom „Verrecken lassen“ – und greifen bei den Bananen zu. Viel präsenter sind an diesem Samstag in Wien aber die Helfer. Und auch in Salzburg sah es ähnlich aus.


Vielen Dank, Österreich. Mit spontanen Sprechchören und Applaus wurde dort einer der Sonderzüge für Flüchtlinge in Richtung München verabschiedet. Der Zug aus Wien hatte dort eine Viertelstunde Zwischenstopp gemacht. Helfer verteilten Proviant und Kleider, in den Ein- und Ausstiegsbereichen rissen sich manche die Flüchtlinge darum, andere hatten in Wien oder Linz schon genug erhalten. Ein Flüchtling beschenkte eine der Helferinnen mit einer weißen Rose – vermutlich aus Wien, dort wurden Rosen als Willkommensgeschenk verteilt. In der Durchgangshalle des Hauptbahnhofs waren Feldbetten aufgestellt. Das Land Salzburg hat auch kurzfristig eine Lagerhalle zur Notunterkunft bereitgestellt. Doch bleiben wollten die Wenigsten, bis zum Nachmittag hatten nur zwei Menschen in Salzburg um Asyl angesucht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2015)

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