25 Jahre Einheit: Wo Deutschland noch immer geteilt ist

Berliner sitzen auf der Mauer nach der Wiedervereinigung in Berlin
Berliner sitzen auf der Mauer nach der Wiedervereinigung in Berlinimago
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Zwei verschiedene Systeme haben Deutschland jahrzehntelang geprägt. Auch wenn das Land längst wieder vereint ist, wird der Staat in gewisser Weise von einer unsichtbaren Mauer durchtrennt.

Berlin. „Wir sind das Volk“ skandierten die Bürger der DDR einst. Später wurde die Parole „Wir sind ein Volk“ daraus. Am 3. Oktober 1990 war es dann endlich so weit. Das geteilte Deutschland konnte zu einer Einheit verschmelzen. So historisch die Wiedervereinigung auch war, so gravierend sind die Unterschiede in den alten und neuen Bundesländern noch heute. Vieles hat sich in den vergangenen 25 Jahren angeglichen, aber eben nicht alles. Das spiegelt sich auch in den Köpfen der Bevölkerung wider. So betrachten viele Ostdeutsche die Westdeutschen als arrogant, umgekehrt wirft man den Ossis Unzufriedenheit vor. Es handelt sich zwar nur um Befindlichkeiten, doch Unterschiede gibt es auch in der Realität. „Die Presse“ hat sich die Wichtigsten angesehen.


• Fremdenfeindlichkeit: Am stärksten macht sich der Graben zwischen Ost und West dieser Tage wohl in der Flüchtlingsfrage bemerkbar. Weil die Zivilgesellschaft im Osten seit jeher als weniger stark ausgeprägt gilt, hatten neonazistische Kader aus dem Westen leichtes Spiel. Sie säten eine rechte Saat, die auf fruchtbaren Boden fiel, wie Rechtsextremismusforscher Johannes Kiess von der Universität Leipzig erklärt. Die höhere Arbeitslosigkeit, die Strukturschwäche der Region, gepaart mit dem Gefühl, als Ostdeutscher ein Bürger zweiter Klasse zu sein, macht es Asylwerbern in den neuen Bundesländern heute besonders schwer.

„Es gibt in Ostdeutschland nicht diese Selbstverständlichkeit, mit Menschen anderer Herkunft zusammenzuleben“, sagt Kiess. Der Mangel an interkulturellem Kontakt erklärt daher die in Ostdeutschland stärker ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit. Während der Ausländeranteil im Osten bei knapp drei Prozent liegt, beträgt er im Westen rund zehn Prozent. Rechtsextremismus ist aber kein Phänomen des Ostens allein, „das wäre ein ungerechtfertigter Freispruch für den Westen“, so Kiess. Das Problem mit rechts sei in Sachsen aber zweifelsfrei am größten, wo die Szene inzwischen ganze Landstriche befriedet habe. Dies schaffe Platz im vorpolitischen Raum. Den gibt es in dieser Form im Westen nicht.


• Politspektrum: Politikverdrossenheit gibt es in beiden Hälften Deutschlands. In den neuen Bundesländern bleiben die Bürger den Wahllokalen aber deutlich öfter fern. Zuletzt sank die Wahlbeteiligung etwa in Sachsen auf ein Rekordtief. Gleichzeitig erfährt die Linkspartei großen Zuspruch. Bei der letzten Bundestagswahl kam sie auf über 20 Prozent der östlichen Stimmen. Im Westen spielt die Partei dagegen eine untergeordnete Rolle. Tarnt sich der „rechte“ Osten also links? Nicht unbedingt. Man kann links wählen und trotzdem Ausländerfeind sein, so Kiess.


• Bevölkerungsentwicklung: Dem Statistischen Bundesamt zufolge leben in Deutschland rund 81 Millionen Menschen. Der Großteil davon ist im Westen zu Hause. Den ehemaligen Osten bevölkern nur 15 Prozent. Nach der Wende gingen Ostdeutschland zwei Millionen Bürger „verloren“: Noch bis 2013 verließen mehr Einwohner die neuen Bundesländer, als neue hinzuzogen. Diese Differenz verringerte sich in den vergangenen Jahren. Im Westen wuchs die Bevölkerung indes durch Zuwanderung. Der Osten gilt zudem als stärker überaltert. Der Anteil der über 65-Jährigen ist seit der Wende um zehn Prozentpunkte gestiegen – und damit doppelt so stark wie im Westen, schreiben die Statistiker.


• Arbeitsmarkt: Die deutsche Konjunktur brummt und erleichtert Firmen das Einstellen neuer Mitarbeiter. Ein Bild, das sich so nicht immer zeichnen ließ. Nach der Wende wurde der Osten vom Wegfall staatlicher Betriebe und der Anpassung an die Marktwirtschaft erschüttert. Deutschland galt lange als der „kranke Mann Europas“.

Die als „Agenda 2010“ bezeichneten Reformen unter Kanzler Gerhard Schröder brachten zwar nachhaltige Verbesserungen. Aber: „Aufschließen konnte der östliche Arbeitsmarkt in den letzten 25 Jahren nicht“, konstatiert eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Während die Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern knapp zehn Prozent ausmacht, liegt sie in Westdeutschland bei rund sechs Prozent. Große Unterschiede gibt es auch beim Einkommen. Vollzeitbeschäftigte verdienen im Westen (inklusive Berlin) durchschnittlich 3600 Euro brutto pro Monat. Die Bevölkerung im Osten muss sich mit 2760 Euro zufriedengeben und hat somit gut ein Viertel weniger zum Leben. Die Situation hat sich seit den Neunzigerjahren aber verbessert. Nach der Wende betrug das Lohnniveau der Ossis nur 47 Prozent der Wessis. Den stärksten Aufholprozess gab es in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung.


• Wirtschaft. Der Großteil der deutschen Wirtschaft wird nach wie vor vom Westen getragen. Die neuen Bundesländer steuern nur 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, früher war es allerdings noch weniger. Die Wirtschaft in Ostdeutschland gilt heute nach wie vor als eher kleinteilig strukturiert, im Westen sind mehr Weltmarktführer zu Hause.

Helmut Kohls Versprechen, den Osten in „blühende Landschaften“ zu verwandeln, hat sich auch 25 Jahre danach nur teilweise erfüllt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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