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Julia Holter: Seltsame, heitere Traurigkeit

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Julia Holter fasziniert mit musikalischen Vexierbildern und lyrischen Ambivalenzen. Ihr viertes Album »Have You in My Wilderness« ist ein kammermusikalisches Popjuwel.

Vor dem Prätentiösen hat sich Julia Holter noch nie gefürchtet. Schon ihr erstes, vor vier Jahren ediertes Album „Tragedy“ führte vor, dass sich die damals 26-Jährige ihren Themen durchaus akademisch nähert. Studiert hat sie am renommierten California Institute of Arts, wo schon Exzentriker wie John Maus und Ariel Pink abgeschlossen haben. Als Debüt ein verhuschtes Konzeptalbum über Euripides Drama „Hippolytos“ vorzulegen, war dennoch eine kühne Angelegenheit. Das hörte sich gar nicht nach Popmusik an. Die Liedersammlung hatte kammermusikalische Anmutung, war erstaunlich vielschichtig und zu guten Teilen „otherworldly“.

Der Nachfolger „Ekstasis“ gefiel sich im Dehnen der Tracks. Acht-, neunminütige Meditationen, mal impressionistisch, dann wieder minimalistisch angehaucht. Schon das erste Lied nannte sich furchtlos „Marienbad“, erweckte mit seinen klaren Schichtungen Erinnerungen an Alain Resnais' albtraumhaftes Meisterwerk „L'Année dernière à Marienbad“ von 1961, in dem der Topos der Unmöglichkeit identischer Erinnerungen von Liebenden verhandelt wurde. Das war eine ziemliche künstlerische Vorgabe. Doch Holters gezierte, an Renaissancemusik gemahnende Liedersammlung war von höchst eigener Statur. Auch die mit hauchigen Gesängen ornamentierten, grobkörnigen Soundcollagen des dritten Longplayers „Loud City Song“, einem musikalischen Portrait ihrer Heimatstadt Los Angeles, überzeugte durch charmante Sperrigkeit.

Paralleluniversum. Seit wenigen Tagen ist das vierte Opus „Have You in My Wilderness“ feil. Es ist das poppigste von Holters Werken. Dennoch braucht sich niemand der Illusion hingeben, dass die Melodien der einzelnen Songs vor dem zehnten Hördurchgang zu funkeln beginnen. Die ätherische Anmutung ist geblieben. Manch Rock 'n' Roller würde diese Lieder wohl als „elfenartig“ oder „feenhaft“ verlachen und die Kunst Holters in die Nähe des Pathologischen rücken wollen. Das passierte schon ähnlich gearteten Kolleginnen wie Kate Bush und Laurie Anderson. Wer hingegen ein wenig Geduld hat, dem öffnet sich ein wunderliches Paralleluniversum zum herkömmlichen, durchindustrialisierten Pop-Produkt.

Es ist eine Welt, in der Vagheit viel wert ist und in der emotionale Schwebezustände auszuhalten sind. Führt nicht gerade unsere Unfähigkeit, mit der Indifferenz zurande zu kommen, ins Unglück? Holter zelebriert dagegen diese Momente der Unentschiedenheit, versucht sie so lange als möglich auszudehnen. In ihren Lieder vergeht die Zeit anders, nämlich bedeutend langsamer. „Figures pass so quickly that I realize my eyes know very well it's impossible to see who I'm waiting for in my raincoat. Can I feel you? Are you mythological?“, rätselt sie zu Spinettklängen im durchaus radiotauglichen Opener „Feel You“. Dann setzen seufzende Violinen und Celli ein, haben die Pauken eine gute Zeit. Auf Holters Stimme liegt an manchen Stellen reichlich Hall, an anderen kommt sie allerdings auch zu kristallklarem Glanz.

„Have You in My Wilderness“ ist ein Manifest zu den Themen Intimität und Geheimnis. Bevor der schnöde Alltag hereinbricht, passiert hier verlässlich das Wunderbare. „Mysteries that wake up late“, wie es im luziden „Silhouettes“ heißt. Und sie baut sich Erinnerungen wie Spielzeuge. „Do you know the proper way to ask for a cigarette? I'm asking before winter comes“, singt sie mit rauer, an Marlene Dietrich gemahnender Stimme im hypnotischen „How Long?“, einem Lied, das wohl in ihrer kurzen Berliner Zeit im Vorjahr entstanden ist, als sie grübelte, ob sie sich dort niederlassen wolle.

Die Lieder von Julia Holter kultivieren regelmäßig rätselhafte Ereignisse, die im Fluss der Musik beständig umgeformt werden. Hinter ihre verborgene Bedeutsamkeit kommt man nicht immer. In manchen Augenblicken ähneln die evozierten Gefühle jenen, die einst John Cale mit „Paris 1919“ auszulösen vermochte: seltsame heitere Traurigkeit. Dazu stellt sich ein Optimismus ein, der ohne Fundament auskommt. Selten war ein solcher so dringlich wie heute.

Steckbrief

Julia Holter wurde 1984 in Los Angeles geboren. Sie ist Sängerin und Komponistin.

2011 erschien ihr Debütalbum „Tragedy“.

2015 „Have You in My Wilderness“ ist ihr viertes Album. Neben ihren Soloalben hat sie mit Nite Jewel, Linda Perhacs und Jean-Michel Jarre gearbeitet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2015)

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