Physiknobelpreis: Der Leib der Poltergeister der Physik

Im gewaltigen Detektor Super-Kamiokande warten in tausend Metern Tiefe 50.000 Tonnen reinstes Wasser und 11.000 Lichtdetektoren auf Neutrinos.
Im gewaltigen Detektor Super-Kamiokande warten in tausend Metern Tiefe 50.000 Tonnen reinstes Wasser und 11.000 Lichtdetektoren auf Neutrinos.(c) Super-Kamiokande
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Neutrinos haben Masse und widersprechen damit dem Standardmodell der Physik. Ein Japaner und ein Kanadier haben das indirekt gezeigt und werden dafür geehrt.

Liebe Radioaktive Damen und Herren! Wie der Überbringer dieser Zeilen Ihnen des Näheren auseinandersetzen wird, bin ich auf einen verzweifelten Ausweg verfallen, um den Wechselsatz der Statistik und den Energiesatz zu retten. Nämlich die Möglichkeit, es könnten elektrisch neutrale Teilchen, die ich Neutronen nennen will, in den Kernen existieren.“ Das schrieb Wolfgang Pauli am 4. 12. 1930 an die „Gruppe der Radioaktiven“, es ging im Kern darum, dass beim Zerfall von Atomkernen auf mysteriöse Weise Energie verloren ging. Das neue Teilchen – Enrico Fermi taufte es später in Neutrino um – sollte das Problem lösen.

Allerdings interagierte das postulierte Teilchen kaum mit anderen, deshalb rast es mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch alles hindurch, und deshalb wird noch etwas von Pauli überliefert: „Ich habe etwas Fürchterliches getan, ich habe ein Teilchen postuliert, das nicht nachgewiesen werden kann.“ Das soll er ins Tagebuch geschrieben haben, es ist wohl eher gut erfunden, zumindest berichtete Jack Steinberger es im Jahr 2000 bei einem Wien-Besuch so, er ist ein guter Zeuge, erhielt 1988 den Physiknobelpreis dafür, dass er 1961 das Myon-Neutrino entdeckte. Das ist ein Geschwister des normalen (Elektron-)Neutrinos, es gibt auch ein drittes, das Tau-Neutrino.

Neutrinos hatten unter Physikern den Spitznamen „Poltergeister“, und im „Project Poltergeist“ zeigten sich die Elektron-Neutrinos bzw. ihre Spuren erstmals 1956, in einer Cadmiumchlorid-Lösung in Stahltanks vor dem Atomkraftwerk Savannah River in South Carolina.

Zweithäufigste Teilchen im All

AKW sind eine Quelle, kosmische Ereignisse eine zweite, die Sonne ist eine dritte, selbst in unseren Körpern werden 5000 Neutrinos pro Sekunde frei, wenn ein Kaliumisotop zerfällt: Es summiert sich zu unvorstellbaren Zahlen, nach den Photonen sind die Neutrinos die zweithäufigsten Teilchen im Universum, durch jeden Quadratzentimeter der Erde oder unsere Haut prasseln Milliarden pro Sekunde. Das kann man berechnen, spüren nicht, und selbst Physiker brauchen riesige Detektoren, tief unter der Erde, dorthin dringen andere Teilchen schwer, Neutrinos hingegen, die weder die elektromagnetische noch die starke Kraft spüren, lassen sich von nichts aufhalten.

Auch nicht von der ganzen Erde: Einer der Detektoren ist Super-Kamiokande in tausend Metern Tiefe in einer früheren Zinkmine in Japan, dort ruhen in einem gewaltigen Tank 50.000 Tonnen Wasser – so rein, dass Lichtstrahlen 70 Meter weit kommen, bevor ihre Intensität halbiert ist, in einem Swimmingpool ist das nach wenigen Metern so weit –, und dort lauern 11.000 Lichtdetektoren. Denn ganz selten kollidieren Neutrinos doch mit anderen Teilchen, dann gibt es bläuliche Blitze – Tscherenkow-Strahlung, sie entsteht, wenn Teilchen rascher unterwegs sind als Licht.

Rascher als Licht? Das gibt es nicht. Als 2012 aus einem Labor im Gran Sasso überlichtschnelle Neutrinos gemeldet wurden, brachen Einstein-Widerleger schon in Jubel aus. Aber man hatte nur ein Kabel falsch eingesteckt.
Trotzdem können Teilchen schneller sein als Licht – wenn dieses gebremst wird, etwa durch Wasser. Dort kann Licht überholt werden. Und dort, im Wasser von Super-Kamiokande, zeigte sich ein Rätsel, ähnlich dem, das Pauli geplagt hatte: Dort kamen Myon-Neutrinos (entstanden durch kosmische Strahlung in der Atmosphäre) häufiger, wenn sie die tausend Meter in die Erde fuhren, als wenn sie aus der Gegenrichtung kamen, durch die ganze Erde hindurch. Woher der Schwund? 1998 schlug Takaaki Kajita vor, dass die „fehlenden“ Neutrinos sich auf dem längeren Weg verwandelt hatten, „oszilliert“ waren vom Myon-Typ in einen der beiden anderen, Elektronen- bzw. Tau-Neutrinos.

Für diesen Fund erhält Kajita nun den Physiknobelpreis, gemeinsam mit dem Kanadier Arthur Macdonald, der 2001 an Neutrinos der Sonne das Gleiche sah: Sie verwandelten sich unterwegs von einem Typ in einen anderen. Das können sie aber nur, wenn sie Masse haben, wie geringe auch immer. Das jedoch widerspricht dem Standardmodell der Physik – in dem haben Neutrinos keine Masse –, es brauchte einen neuen Pauli. Aber der machte sich damals schon rar: „Also, liebe Radioaktive, prüft und richtet. Leider kann ich nicht persönlich erscheinen, da ich infolge eines Balles unabkömmlich bin.“

Die Neuen Nobelpreisträger

Arthur B. McDonald, geboren 1943 in Sydney (Kanada), ist Physiker an der kanadischen Queen's University. Er gilt als bescheidener Teamarbeiter.

Takaaki Kajita, geb. 1959 in Higashimat-
suyama (Japan), ist an der Uni Tokio und war am Experiment Super-Kamiokande beteiligt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2015)

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