"Der Anschluss zeigte Hitler, was möglich war"

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In seinem neuen Buch "Black Earth" legt der Historiker Timothy Snyder dar, wie die Nazis durch die Zerstörung von Staatsstrukturen den Holocaust ermöglichten. So etwas könne sich wiederholen, warnt er im "Presse"-Gespräch.

Die Presse: Sie argumentieren in Ihrem neuen Buch, dass der Holocaust nicht das Ergebnis perfekter Planung durch die Nazis war, sondern fast das genaue Gegenteil: Der Nazistaat schuf bewusst Anarchie, zerstörte staatliche Strukturen, und erst das machte den Massenmord an den Juden möglich. Wieso haben wir die Dinge bisher so falsch verstanden?

Timothy Snyder: Es gab keinen Masterplan, keine wissenschaftliche Präzision. Die deutsche Bürokratie konnte bis Kriegsende nicht abschließend definieren, wer alles Jude war. Diese Bürokratie konnte Deutschlands Juden erst töten, nachdem sie sie in Zonen im Osten geschickt hatte, wo staatliche Strukturen zerstört waren. Orte wie Riga, Łódź oder Minsk waren damals aus Sicht deutscher Juden die Hölle auf Erden – aber nur deshalb, weil die Deutschen sie dazu gemacht hatten.

Wie kam es dazu?

Hitler warf den Juden alles vor, was die Welt davon abhielt, so zu sein, wie sie für ihn sein sollte: ein endloser Rassenkampf um Land, endloses Blutvergießen und Aushungern. Alles, was das verhindert – das Recht, der Staat, Kommunismus, Kapitalismus oder Christentum – ist für ihn jüdische Erfindung, die uns in die Irre führt. Damit diese Ideen verschwinden, müssen die Juden ausgelöscht werden. Um das umzusetzen, musste zweierlei passieren: Erstens erlangte Hitler die Kontrolle über den deutschen Staat. Das allein brachte keinen Holocaust. Von 1933 bis 1938 wurde die deutsche Politik gegenüber den Juden radikaler, aber das Schlimmste, was passierte, war die Kristallnacht, in der etwa 200 Juden ermordet wurden. Das war für die Naziführung ein Misserfolg, es zeigte, dass man innerhalb Deutschlands jene politischen Maßnahmen nicht umsetzen konnte, die zur Auslöschung der Juden führen würden.

Was folgt daraus?

Hitler war von Natur aus Anarchist. Darum tat er sich schwer, einen Staat zu kontrollieren. Er löste dieses Problem, indem er das Potenzial schuf, andere Staaten zu zerstören. Dazu mussten die SS, Hitler und Himmler experimentieren können. Beim Anschluss Österreichs 1938 wurde den Juden an einem einzigen Tag mehr Leid zugefügt als den deutschen Juden in den ganzen fünf Jahren zuvor. Der Tag, an dem Österreich zu existieren aufhörte, war der schlimmste Tag für die Juden Europas.

Sie weisen nach, dass die schlimmsten Massenmorde an den Juden in den Gegenden Osteuropas stattfanden, die zuerst 1939 bis 1940 von den Sowjets und dann 1941 von den Deutschen besetzt wurden: Ostpolen, das Baltikum, die Ukraine, Weißrussland. Wie erklären Sie sich dann aber, dass 75 Prozent aller niederländischen Juden ermordet wurden?

Die Niederlande waren jener Fall in Westeuropa, der einer osteuropäischen Besetzung durch die Deutschen am nächsten kam. Es gab einen Staat – aber anders als in Dänemark oder Frankreich waren Staatsoberhaupt und Regierung weg. Und es war die SS für die Besetzung zuständig, nicht die Wehrmacht: Das war in Westeuropa einzigartig. Ich finde es bezeichnend, dass die Deutschen in Westeuropa nur in den Niederlanden erwogen, Ghettos einzurichten.

Österreich war für Hitler ein Testfall, um die Zerstörung eines Staates auszuprobieren. Wäre der Holocaust anders verlaufen, wenn der Anschluss weniger glatt über die Bühne gegangen wäre?

Ja. Der Anschluss zeigte, was möglich war. Denn der Wegfall des Schutzes durch den österreichischen Staat änderte die Lage der Juden dramatisch. Aber das allein reichte nicht. Denn viele Österreicher, auch solche ohne Nazivergangenheit, machten bereitwillig bei der Erniedrigung der Juden mit. Diese lokale politische Reaktion hatten die deutschen Nazis nicht erwartet. Sie waren überrascht, dass so viele Österreicher bereit waren, die Juden für das Versagen der österreichischen Regierung verantwortlich zu machen. Ähnliches zeigte sich 1941, als die Nazis in eroberten sowjetischen Gebieten mit der Bevölkerung zusammenarbeiten konnten, gemäß der Devise: Die Juden sind dafür verantwortlich, was die Sowjets getan haben. Das ist für unser Verständnis sehr wichtig. Denn wir würden nicht erwarten, dass ein Bauer in Ostpolen dasselbe politische Verständnis hat wie ein gutbürgerlicher Wiener.

„Black Earth“ soll nicht nur Geschichte, sondern auch Warnung sein. Inwiefern?

Der Holocaust war planetarischer Antisemitismus plus ökologische Panik plus die Zerstörung von Staaten. Wir erinnern uns aber nur mehr an den Antisemitismus. Wenn man davon überzeugt ist, dass der Holocaust eine Kombination dieser drei Dinge war, hat man starken Anlass, über die Lage der Welt besorgt zu sein. Denn wir sind zuletzt nicht sehr sorgsam mit dem Staat umgegangen: Die USA haben 2003 den irakischen Staat zerstört, Russland versucht, den ukrainischen Staat zu zerstören, Staaten zerfallen in Afrika und im Nahen Osten, und zudem bewirkt der Klimawandel, dass die Menschen sich heute viel mehr Sorgen um Nahrung machen als vor zehn oder fünfzehn Jahren.

Hitlers Hass auf die Juden war seine Reaktion auf die erste Welle der Globalisierung. Sehen Sie heute ähnliches Denken?

Leider ja. Dieser planetarische Antisemitismus tritt wieder stärker auf. Dieses Denken bezieht sich manchmal auch auf Homosexuelle. Manche russische Nationalisten meinen, es gebe eine homosexuelle Weltverschwörung dessen, was sie „Blaue Lobby“ nennen. Das ist hochgefährliches Denken. Denn sobald man die Komplexitäten der Weltpolitik auf eine einzige Sache reduziert, wird diese zum Angriffsziel. Sobald man Systeme auf eine Gruppe von Menschen reduziert, erscheint die Lösung einfach: Man muss diese Gruppe von Leuten ausschalten.

Präsident Putin präsentiert sein Tun in der Ukraine als antifaschistischen Kampf und lobt die Rote Armee. Wieso ist diese Geschichtsmanipulation bei vielen Menschen in Westeuropa so erfolgreich?

Der Zweite Weltkrieg begann mit dem deutsch-sowjetischen Bündnis, gemeinsam Polen anzugreifen. Die Kollaboration sowjetischer Bürger mit den Nazis beim Holocaust war ziemlich umfassend. Praktisch alle Leute in den besetzten Gebieten, denen die Deutschen Gewehre in die Hände drückten, um Juden zu ermorden, waren Sowjetbürger. Die Propaganda tat nach dem Krieg zweierlei: Sie konzentrierte sich erstens nur auf die sowjetischen Opfer der Deutschen und argumentierte: Weil wir die Deutschen besiegt haben, waren wir immer ihre Feinde – was nicht stimmt; keiner von uns hat mit ihnen kollaboriert – was auch nicht stimmt; und Stalins Verbrechen waren rückblickend betrachtet notwendig – was keinen Sinn ergibt. Zweitens sagte die Propaganda nach 1945: Insofern es Kollaborateure gab, waren das Mitglieder von Volksgruppen, also Litauer, Letten oder Ukrainer. Das waren nicht zufällig dieselben Leute, die den Sowjets selbst Probleme bereiteten. Die Sowjets sagten also: Wer sich uns widersetzt, war ein Faschist. Manchmal stimmte das. Aber dabei übersieht man eine Menge Kommunisten in Weißrussland oder im Westen Russlands, die mit den Deutschen kollaborierten. Die Sowjets ethnisierten also die Schuld. Auf diese Weise funktioniert die Mythenmaschine in Russland noch immer.

ZUR PERSON



Timothy Snyder
ist Professor für Geschichte in Yale und Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Sein neues Buch „Black Earth: Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“ erscheint nun bei C. H. Beck. Am 21. Oktober (18 Uhr) stellt er es im Wien Museum vor. Der Veranstaltungssaal ist bereits ausgebucht, es wird per Video ins Foyer übertragen (nur Stehplätze, Näheres unter www.iwm.at). Snyder sprach mit der „Presse“ und der polnischen Nachrichtenagentur PAP. [ Mirjam Reither ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2015)

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