Macondo: Was alles möglich ist am Simmeringer Rand

Seit 60 Jahren Flüchtlingsquartier: Macondo, Simmering.
Seit 60 Jahren Flüchtlingsquartier: Macondo, Simmering.(c) Freitag
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Artillerieplatz 1. Das klingt eher nach Krieg als nach immerwährendem Frieden.

Und dennoch: Ziemlich friedlich liegt es seit Jahrzehnten da, das Kasernengelände aus Monarchiezeiten, heute eingekeilt zwischen Donauländebahn, Hauptkläranlage, Hafen Wien und jener A4, die sich, wenige Wochen ist es her, mit 71 jämmerlich in einem Kühllastwagen Erstickten der jüngeren Geschichte europäischer Flüchtlingstragödien eingeschrieben hat.

Flüchtlinge sind es auch, denen das kaiserlich-königliche Mauerwerk samt späteren Zubauten in den vergangenen sechs Jahrzehnten neue Heimat wurde und gar nicht so selten Heimat blieb. Beginnend mit dem Ungarn-Aufstand des Jahres 1956, hat sich auf den fünf Hektaren eine halbe Welt versammelt, als gelte es, alle Nöte dieser Erde an einem Ort zu vereinen: Kongo-Krise und Chile-Putsch, die Niederschlagung des Prager Frühlings und die Kriege in Vietnam, Bosnien, Tschetschenien – sie alle und noch etliche mehr haben hier, in äußerster Simmeringer Stadtrandlage, ihre Spuren hinterlassen.

Und was sonst als so brisant und brandgefährlich gilt, ein virulentes Gemisch verschiedenster Sprachen, Kulturen, Religionen, hier hat es sich als reichlich unbrisant erwiesen. Ja nicht einmal die zynische Behördenidee, mitten unter die Quartiere jener, die sich, einen positiven Asylbescheid in der Hand, gerade noch retten konnten, ein Abschiebezentrum zu platzieren für jene, denen dieses Glück verwehrt blieb, vermochte das gesellschaftliche Gefüge auf Dauer durcheinanderzubringen.

Macondo wurde das Gelände einst von Chile-Flüchtlingen benannt – nach jenem Dschungelort, an dem Gabriel García Márquez in „Hundert Jahren Einsamkeit“ eine Gemeinschaft der Verfemten Zuflucht suchen lässt. Viele der Verfemten jenes Macondo zu Wien Simmering haben längst ihren Platz als Wiener unter Wienern gefunden; anderen wieder steht die Suche nach diesem Platz eben erst bevor. Was wir von ihnen lernen können? Dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Und manches viel weniger unmöglich ist, als es uns manchmal scheinen mag.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2015)

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