Spielfeld: Wenn die Barrieren brechen

Spielfeld
SpielfeldAPA (ERWIN SCHERIAU)
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Hunderte Menschen überwanden am Mittwoch Absperrungen im Versorgungszentrum Spielfeld. Auf kleinstem Raum versorgen Polizei, Helfer und Heer rund 1000 Menschen.

Spielfeld. Und dann war der Druck doch zu groß: Hunderte Flüchtlinge, die sich in der Erstversorgungsstelle bei Spielfeld an der steirisch-slowenischen Grenze versammelt hatten, durchbrachen am Mittwoch die Absperrungen – ein zweites Mal innerhalb weniger Stunden.

Junge Männer sind über Metallsperren geklettert, wie sie auf Baustellen verwendet werden, sind über Zäune gesprungen, die die Menschen geordnet ins Camp hätten führen sollen. Selbst Polizisten und Soldaten, die sich mit breiter Grätsche dicht gedrängt um den Eingang postierten, konnten die aufgebrachte Menge nicht aufhalten. Denn rasch kamen auch die anderen nach: Mütter mit Kindern, Alte, Kranke.

Begleitet von Polizisten und Soldaten marschierten manche weiter auf der Bundesstraße. Nach Wien oder Deutschland sollte es gehen, mit Taxis oder Bussen. Anfangs noch zielstrebig, doch wenig später verließ sie der Wille. In Grüppchen irrten sie umher, campierten neben der B67 oder auf einem nahe gelegenen Parkplatz. „Bus? Taxi?“ Wie sie genau weiter nach Norden kommen sollten, wusste keiner.

Die Staatsmacht ist machtlos

Andere nutzten die Gelegenheit, um sich vor dem Versorgungszentrum Platz zu schaffen. Neben den Grenzhäuschen, zwischen Einsatzwagen, Polizisten und Soldaten war schon bald ein zweites Lager entstanden – nur diesmal ohne Abzäunungen. Der Polizei seien bei solchen „gruppendynamischen Phänomenen“ die Hände gebunden, sagt Polizeisprecher Fritz Grundnig. „Man muss die Verhältnismäßigkeit wahren.“ Denn aufzuhalten sei die Menge nur mit Waffengewalt.

Dolmetscher beruhigen

Obwohl die Kooperation zwischen Österreich und Slowenien gut funktioniere, könnten daher ohne Vorwarnung plötzlich tausende Menschen vor der steirischen Grenze stehen, erklärt Grundnig. Daher sei die Polizei bemüht, die Flüchtlinge in Bussen so schnell wie möglich weiterzuschleusen – die Koordination der Transporte nach ganz Österreich übernehme Wien.

So versuchten am Mittwoch Dolmetscher, die Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen. Auf Arabisch, Farsi oder Kurdisch, über Megafon oder persönlich informierten sie die Menschen. „Ich habe ihnen erklärt, dass sie nur weitertransportiert werden, wenn sie kooperieren und sich registrieren lassen“, sagt Caritas-Dolmetsch Adam Georgis. Schnell würden die Menschen beim Warten auf die Busse ungeduldig. Mütter hätten Angst, dass ihre Kinder in der Menge erdrückt werden könnten. Wenn sich aber alle ein wenig mehr an die Anweisungen halten, würde nichts passieren, meint Georgis.

Nach knapp einer Stunde Überzeugungsarbeit entschied sich ein Großteil, wieder ins Lager zurückzukehren. Alle paar Minuten aber kommen mehr Menschen nach. In Grüppchen von bis zu zehn Personen gehen sie zu Fuß von Šentilj über die slowenische Grenze. Viele sind in Decken gehüllt, tragen Hauben, Daunenjacken und Wollschals.In großen weißen Zelten haben sie die Nacht in Lagern in Slowenien verbracht. Nachdem in der Früh die meisten Flüchtlinge das Camp verlassen hatten, blieben am Vormittag hauptsächlich Familien mit Kindern zurück. Auf Feldbetten rasteten sie in den warmen Unterschlüpfen. Im Inneren roch es nach Fäkalien und Schweiß. Die einzigen Waschmöglichkeiten haben zwei Wasserspender im Freien geboten; wie Fahrradständer mit mehreren Wasserhähnen sehen sie aus. Gebückt standen Männer und Frauen über ihnen, um zumindest Beine und Gesicht zu reinigen.

Fünf Tage haben er und seine Familie sich nicht mehr duschen können, erzählt der 50-jährige Samir. Er trage dieselbe Kleidung, die er auch bei der Flucht aus Damaskus vor zehn Tagen am Leib hatte. Schlepper hätten ihnen vor der Überfahrt nach Griechenland befohlen, das Gepäck zurückzulassen – um noch mehr Menschen mitnehmen zu können. Mit derart niedrigen Temperaturen auf der Reise hatte er nicht gerechnet.

Dass Mittwochfrüh derart viele Menschen das slowenische Camp verlassen konnten, sei so nicht geplant gewesen, sagt Zvonko Merc, Einsatzleiter der Versorgungsstelle in Šentilj. Die slowenische Polizei habe die Straße nach Österreich zwar blockiert. Da der Druck der Flüchtlinge in der Früh immer größer wurde, hätten die Beamten schließlich nachgeben müssen.

Angeheizte Stimmung

Knapp 500 Meter sind es, die die Betreuungszentren beidseits der Grenze trennen. Dass sie aber tatsächlich in Österreich angekommen sind, wollen viele nicht recht glauben. „Nemsa? Wien?“, fragen viele. „Wie viele Kilometer sind es bis zur österreichischen Grenze?“

Selbst mit der steirischen Versorgungsstelle in Sicht bleiben viele skeptisch. „Alle Leute nach Österreich“, ruft ein junger Grenzbeamter einer Gruppe mehrmals zu, bevor die Menschen reagieren. Viele Ankommende seien sehr beunruhigt, sie wollten so schnell wie möglich weiter, erklärt er.

Zusätzlich ist der Platz in Spielfeld begrenzt. Auf kleinstem Raum müssen bis zu 1000 Menschen unterkommen, sagt Klaus Steinwendtner vom Roten Kreuz. Die Stimmung unter den Flüchtlingen sei gereizt. Mit Essen, Getränken und warmen Zelten versuche man, sie zu beruhigen. Sie versuchten mit allen Mitteln, rasch weiterreisen zu können, sagt Steinwendtner. „Viele brechen zusammen, sobald sie ankommen. Sie haben das Gefühl, schneller voranzukommen, sobald sie versorgt werden.“

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2015)

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