Kinder dürfen zu gleichen Teilen bei Vater und Mutter wohnen

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Themenbild(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der Verfassungsgerichtshof stellt klar, dass Kinder nach der Trennung der Eltern eine "Doppelresidenz" haben dürfen.

Wien. Mutter und Vater haben beide das Sorgerecht für das Kind. Die Eltern akzeptieren sich gegenseitig, auch wenn sie getrennt sind. Auch das Kind mag Vater und Mutter gleichermaßen. Und schon seit Jahren ist es Usus, dass der Nachwuchs eine Woche bei dem einen und eine Woche bei dem anderen Elternteil lebt. Eine Doppelresidenz des Kindes rechtlich festzuschreiben, das gehe aber leider trotzdem nicht, fürchtete das Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen. Zu strikt sei das Gesetz, weswegen das Landesgericht den Verfassungsgerichtshof mit der Bitte anrief, diese Gesetzesstellen im ABGB aufzuheben.

Das tat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) in seiner am Freitag bekannt gegebenen Entscheidung zwar nicht. Doch er gibt nun trotzdem grünes Licht für Fälle wie den oben geschilderten. Denn, so meinen die Höchstrichter, man müsse das geltende Gesetz so interpretieren, dass der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Genüge getan wird. Wenn man den dort verbrieften Schutz des Familienlebens ernst nehme, könne das nur bedeuten, dass eine Doppelresidenz von Kindern bei beiden Elternteilen schon jetzt zulässig ist. Dann, wenn dies für das Kindeswohl am besten ist.

Da die strittige Norm aber nicht aufgehoben wurde, stehen nun weiter die bisherigen Formulierungen im Gesetz. Es heißt weiterhin, dass man festlegen muss, „in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird“. Oder, dass man klären muss, „bei welchem Elternteil sich das Kind hauptsächlich aufhalten soll“. VfGH-Präsident Gerhart Holzinger sieht darin aber keinen Widerspruch zur Entscheidung. Es handle sich nämlich nur um eine Vorgabe für Formalitäten. So müsse jeder laut dem Melderecht einen Hauptwohnsitz haben. Auch für das Wahlrecht (das es ja schon für 16-Jährige gibt) sei ein Hauptsitz von Bedeutung. Aber losgelöst von diesen Fragen könne das Kind zwei Residenzen haben.

Wortwahl im Gesetz ändern?

Gerade bei der Frage, bei wem das Kind den vom Gesetz geforderten hauptsächlichen Aufenthalt haben soll, werde aber in der Praxis gestritten, sagt Doris Täubel-Weinreich im Gespräch mit der „Presse“. Die Vorsitzende der Fachgruppe Familienrecht in der Richtervereinigung begrüßt die Entscheidung des VfGH. Gleichzeitig spricht sie sich aber dafür aus, dass die Politik nun auch die Wortwahl im Gesetz ändern soll. Statt der Festlegung auf einen Ort, an dem das Kind hauptsächlich zu betreuen ist, solle man nur mehr einen Elternteil als „Verantwortlichen für Verwaltungsangelegenheiten“ festlegen.

Täubel-Weinreich warnt davor, die Entscheidung überzubewerten. Der VfGH mache nun zwar die Doppelresidenz möglich. Aber in der Praxis werde es diese bei eher wenigen Fällen geben. Neben einer gemeinsamen Obsorge der Eltern brauchte man ja auch zwei Kinderzimmer und in der Regel ein gutes Verhältnis von Vater und Mütter.

Allerdings: Die VfG-Entscheidung erlaubt es Familiengerichten, auch dann eine Doppelresidenz für das Kind festzulegen, wenn die Eltern das nicht wollen. Ist so ein Szenario denkbar? „Das kann schon passieren“, meint Täubel-Weinreich. Etwa, wenn die Doppelresidenz seit Jahren Realität war, die Eltern sich aber jetzt erst scheiden lassen und jeder das Kind für sich beansprucht. Hier könnte das Gericht urteilen, dass es für das Kindeswohl am besten ist, wenn der Nachwuchs weiterhin zwei Wohnsitze hat. Die gemeinsame Obsorge selbst können Familiengerichte schon seit 2013 auch gegen den Willen von Elternteilen anordnen.

Richter bisher nicht einig

Das Erkenntnis des VfGH zieht einen Schlussstrich unter die Frage, ob die Doppelresidenz erlaubt ist. Gerichte hatten das Gesetz bisher unterschiedlich interpretiert. Wobei die nun definitiv erlaubte Doppelresidenz in der Praxis weitere Fragen aufwerfen könnte. Etwa, weil die Familienbeihilfe nicht halbe-halbe ausbezahlt wird, sondern nur an einen Elternteil. Derartige Fragen müssten aber wie auch andere Unterhaltsfragen im Verhältnis zwischen den Eltern geklärt werden, sagt Holzinger. Im Streitfall urteilt wieder das Familiengericht.

AUF EINEN BLICK

Der Verfassungsgerichtshofentschied, dass Kinder zu gleichen Teilen bei Vater und Mutter wohnen dürfen. Das bestehende Gesetz sei in diese Richtung zu interpretieren, eine Aufhebung gar nicht nötig. Zwar muss weiterhin ein primärer Aufenthaltsort des Kindes festgelegt werden. Dieser soll aber nur für Verwaltungsfragen (Meldeamt, Wahlsprengel) ausschlaggebend sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

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