Derzeit sind auf der Balkanroute 36.000 Menschen unterwegs. Hunderttausende warten noch an der türkischen Küste. Die Frage ist, ob sie die Überfahrt auch in der kalten Jahreszeit wagen.
Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) hatte am Montag einen neuen Rekord zu vermelden. 218.000 Flüchtlinge kamen allein im Oktober über das Mittelmeer, um schließlich in Europa um Asyl anzusuchen. Wobei der Großteil, nämlich 210.000 Menschen, die vergleichsweise kurze, wenn auch nicht ungefährliche Strecke zwischen der Türkei und Griechenland zurücklegte. Die Fahrt dauert wenige Stunden, im Gegensatz zur weitaus längeren Seefahrt zwischen Afrika und Italien, die im Oktober nur 8000 Menschen auf sich nahmen. Fast alle Afrikaner.
Trotzdem hat der Oktober in den Jahren davor immer eine Zäsur markiert. Mit Beginn der kalten Jahreszeit kamen weniger Flüchtlinge nach Europa. Der Weg wurde anstrengender, Schnee, Wind und die Kälte machten ihn gefährlicher. Zum Vergleich: Im Vorjahr gelangten im Oktober 7432 Menschen über die Türkei nach Griechenland, im folgenden November waren es nur mehr die Hälfte, nämlich 3800 Menschen, und im Dezember 2050. Ab dem Frühling nahmen die Zahlen wieder zu. Und heuer? Ist zumindest in den nächsten Tagen keine Entspannung in Sicht.
Laut „Presse“-Informationen sind derzeit 36.000 Menschen auf der Westbalkanroute unterwegs: 6500 auf den griechischen Inseln, 6200 auf dem griechischen Festland, 5300 in Mazedonien, 6000 in Serbien, 6500 in Kroatien, 5500 in Slowenien. Der Großteil von ihnen wird – wenn auch mit Zeitverzögerung – demnächst Österreich erreichen.
3000 täglich oder 7000?
Das UNHCR rechnet laut Regierungskreisen in den nächsten zwei bis drei Wochen mit 3000 bis 4000 Neuankömmlingen täglich in Österreich. Das könnte zu niedrig angesetzt sein. Die griechische Polizei geht hingegen davon aus, dass auch in den kommenden Wochen täglich 7000 Flüchtlinge Griechenland erreichen werden. Hunderttausende würden noch in der Türkei auf die Überfahrt warten. Je nachdem, an welche Prognose man sich hält, bedeutet das eine leichte Entspannung für Österreich – oder gar keine. Zuletzt kamen jeden Tag 5000 bis 7000 Menschen über Slowenien nach Österreich, so die steirische Polizei.
Wobei für die Zahl der Menschen auf der Flucht nicht das Wetter entscheidend ist: Eine Rolle spiele auch, ob sich die Situation in den Lagern in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei verbessere, so Christoph Pinter, Chef des UNHCR-Büros in Österreich. Grundsätzlich könne man aber sagen, dass bei Kälte weniger Menschen kämen. „Die Frage ist nur, nützen dann viel mehr Menschen die Chance, wenn es wärmer ist?“ Pinter weist auch noch auf einen anderen Pull-Faktor hin: Sobald der Wellengang hoch wird, gehen die Schlepper mit den Preisen herunter.
Und wer kommt? Laut UNHCR sind noch immer 64 Prozent der Flüchtlinge auf der Westbalkanroute Syrer, gefolgt von Afghanen (22 Prozent) und Irakern (sieben Prozent). Wobei laut „Presse“-Informationen in Österreich in den vergangenen Wochen vermehrt Iraker um Asyl angesucht haben. Geändert hat sich auch das Geschlechterverhältnis. Gab es bis vor einigen Monaten noch die Meldung, dass 80 Prozent der Flüchtlinge Männer seien, zeigen UNHCR-Daten nun ein anderes Bild. Nur mehr 62 Prozent der Flüchtlinge auf der Westbalkanroute sind Männer, 14 Prozent Frauen – und 22 Prozent Kinder.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2015)