"1001 Nacht" in Zeiten des Terrors

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Rushdie, Karahasan, Maalouf: Immer mehr große Autoren schreiben historische Romane, um den islamistischen Terror zu ergründen.

Wenn der Medicus im gleichnamigen, weltweit erfolgreichen Roman durch die „Türkei“ zieht, darf man das nicht so wörtlich nehmen. Die Gebiete, die der US-amerikanische Autor Noah Gordon so bezeichnet, gehörten im 11. Jahrhundert, in dem das Buch spielt, zum Teil zum Byzantinischen Reich, zum Teil zum Reich der Seldschuken, einer türkischen Fürstendynastie. Letzteres ist das Ziel des Medicus. Zwei Jahre lang braucht er, bis er in Persien ankommt und dort die Heilkunst studieren kann. In Isfahan, wo sonst – in der damaligen Hauptstadt des westlichen Seldschukenreichs, über die ein persisches Sprichwort behauptet: „Isfahan ist die Hälfte der Welt.“

Isfahan, und immer wieder Isfahan: Bosniens renommiertester lebender Autor hat seinen neuen Roman ebenfalls hier angesiedelt. Und auch zeitlich ist Dževad Karahasans „Der Trost des Nachthimmels“ dem „Medicus“ nahe, er spielt nur wenige Jahrzehnte später, im 11. und 12. Jahrhundert. Literarisch kann man die zwei Romane freilich nicht vergleichen – „Der Trost des Nachthimmels“ ist ein stilistisch bewundernswertes, sanftes und weises Epos, ein tief berührendes großes Alterswerk. Sein Held ist eine berühmte Gestalt aus der Geschichte, Omar Chayyām, ein im Jahr 1131 verstorbener persischer Dichter, Astronom und Mathematiker. Eine Nebenrolle spielt auch der berühmte Sufi Abū Sa‘īd-i Abū l-Chair, obwohl er in Wirklichkeit schon ein Jahr nach Chayyāms Geburt starb.

Der weise Muslim als Held.
Berühmte Persönlichkeiten in historische Romane einzubauen ist ein Verfahren, das so alt wie das Genre selbst ist. Sir Walter Scott, der als dessen Schöpfer gilt, verwendete als Hauptfiguren durchschnittliche Menschen, mit denen man sich identifizieren konnte, damit wollte er die Geschichte nahe an den Leser heranrücken. Berühmtheiten als Hauptfiguren hätten ihm auch nicht die dichterische Freiheit gelassen, die er brauchte, um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Historische „Prominente“ tauchten aber bei wichtigen Ereignissen als Nebenfiguren auf. Eine solche Nebenfigur ist in „Der Medicus“ der arabische Philosoph und Arzt Ibn Sina alias Avicenna. Auch in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ kommen bedeutsame historische Persönlichkeiten am Rand vor, etwa Michael von Cesena oder Bernard Gui.

Die Schriftstellerin Hilary Mantel hingegen hat in ihren grandiosen Cromwell-Romanen einen der wichtigsten Politiker der englischen Geschichte zur Hauptfigur gemacht, gleich zweimal gewann sie damit den Booker Prize. Mantel hat dafür jahrelang die Quellen studiert. Um dann die Historikerin hinter sich zu lassen und als Dichterin im Präsens draufloszuschreiben, als sähe sie den Helden und seine Welt direkt vor sich. Auch Dževad Karahasan sucht eine zeitlose menschliche Nähe zu seinem ein wenig einsamen Helden. Omar Chayyām ist der aus dem Abseits begreifen wollende, zugleich nach Liebe dürstende Beobachter einer im Zerfall befindlichen Gesellschaft: Der wieder erstarkte alte persische Adel träumt von der Größe des verlorenen alten Weltreichs, Ablehnung macht sich gegenüber den Türken und Arabern breit. Der Machtkampf zwischen der weltlichen Macht, dem Sultan, und dem Kalifat, das die religiöse Macht repräsentiert, eskaliert. Chayyām wird ins Geschehen gezogen, als er einen Giftmord am Vater seines Freundes aufklären soll. Dabei entwickelt er Tricks, die moderner Detektive würdig wären, und löst schwierige philosophische Dilemmata (etwa ob es wichtiger ist, die Wahrheit über den Mörder zu sagen oder seine beginnende Liebe zur Tochter des Ermordeten zu schützen). Er kommt mit der Weltpolitik des Sultans in Berührung, der etwa erwägen muss, ob er gegen Aufständische (die an den IS erinnern) Krieg führen soll; und er erlebt größtes Leiden – seine Frau wird von Assassinen ermordet. Über die Liebe konnte Karahasan immer schon wundervoll schreiben. Am Ende wird „Der Trost des Nachthimmels“ auch immer mehr zu einem Buch über das Altern und den Tod.


Amin Maaloufs „Samarkand“. Chayyām gehörte zu den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit. Im Auftrag des Seldschukenfürsts ließ er nicht nur ein Observatorium bauen, er erstellte auch einen Sonnenkalender, der genauer als der ein halbes Jahrtausend später entstandene Gregorianische war; noch der moderne iranische Kalender beruht auf Chayyāms Berechnungen. Über sein skeptisch-aufklärerisches Denken weiß man durch seine Vierzeiler („Rubayat“) Bescheid. Kein Wunder, dass er als Gegenfigur zum religiösen Fundamentalismus schon frühere Romanciers fasziniert hat. Etwa den in Paris lebenden, wunderbaren libanesischen Autor Amin Maalouf. Im Roman „Samarkand“ (1988) schilderte er, wie Chayyām als Ungläubiger verfolgt wird, und knüpft einen Bezug zum 20. Jahrhundert: Da findet ein Amerikaner das Originalmanuskript von Chayyāms Gedichten – nur um sie beim Untergang der Titanic wieder zu verlieren.

In „Der Trost des Nachthimmels“ steht Chayyām, wie Karahasan selbst in einem Interview sagt, für das „philosophische oder künstlerische Prinzip“. Zwei Freunde Chayyāms verkörpern die für Karahasan übrigen zwei „Grundformen des menschlichen Daseins“: Der Großwesir Nizam al-Mulk steht für das „konservative Prinzip“, er will das Bestehende bewahren und verbessern. Hassan-i Sabbah schließlich repräsentiert den revolutionären Geist. Er richtet über die Welt und will eine ganz neue schaffen.

Die von ihm angeführten Nizariten, auch als Assassinen bekannt (nach ihrem angeblichen Haschischkonsum), wurden historisch durch ihre Attentate auf wichtige politische Gegner bekannt. Sie eroberten Bergfestungen und schickten von dort ihre Auftragsmörder aus, einzeln oder in Gruppen – „Opferbereite“ wurden sie genannt, weil sie meist bei den Attentaten starben. Nach den Assassinen ist in vielen Sprachen der Attentäter benannt, etwa der englische „assassin“. Schon Marco Polo hat über Hassan-i Sabbah geschrieben, den er den „Großen Assassin“ nennt; er betäube junge Männer mit Opium, biete ihnen auf seiner Burg Speis und Trank und Frauen wie im Paradies, bevor er sie zum Opfertod ausbilden lasse – in dem sie ihre einzige Chance sehen, wieder in das Paradies zu kommen.

Der Duft der Angst. In Briefen an seinen Freund Omar Chayyām lässt Karahasan den Terroristen Hassan seine Philosophie der Angst schildern: „Von deiner Angst hängt ab, wie du zu Gott betest und wie du isst, wie du in den Kampf gehst und wie du dich nach Frauen sehnst. Deine Angst bestimmt, was dir im Leben wichtig ist und mit wem du Umgang pflegst, was du lernst und worüber du nichts erfährst. Sag mir, was für eine Angst du hast, und ich sage dir, was für ein Schicksal du hast. Deshalb sage ich dir, Macht über die Menschen hat, wer ihre Ängste lenkt.“ Die Angst, schreibt Hassan an Omar, habe einen unverkennbaren Geruch. Er solle sich eine Welt vorstellen, die von diesem Geruch erfüllt wäre, „eine Welt, in der er gleichzeitig aus jedem lebendigen Menschen strömt und ihn umgibt. Das wird eine Welt weiser Ernsthaftigkeit und der Mühe um die letzten Dinge sein und nicht dieser muntere Zirkus oberflächlichen Jauchzens und falscher Freude. Glaub mir, das wird eine gute Welt, ich werde sie formen, ich weiß schon, wie.“

Immer mehr verbreitet sich der „Duft der Angst“, wie es im Buch heißt. Und immer klarer wird, wohin Karahasan mit diesen Beschreibungen hinsteuert – nämlich direkt in die Gegenwart des islamischen Fundamentalismus und Terrorismus.

Rushdies „1001 Nacht“-Saga. Er ist nicht der einzige berühmte Autor, der in einem historischen Roman diese Richtung einschlägt. Seit den Attentaten von 9/11 mehren sich die Versuche, sich dem Phänomen literarisch über den Umweg der Geschichte zu nähern: durch historische Romane, die tief in der muslimischen Vergangenheit spielen. Auch Salman Rushdie hat in seinem jüngsten Roman, „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“ (umgerechnet: 1001 Nacht), den Fundamentalismus im Visier.

Erstaunlich ist das nicht. Seit der historische Roman Ende des 18. Jahrhunderts aufkam, diente er immer wieder zur Erklärung der Gegenwart. „Klar herausgesagt: Mit Geschichte will man immer etwas“, schrieb Alfred Döblin in seinem 1936 erschienenen Essay „Der historische Roman und wir“. In seiner „Amazonas“-Trilogie schilderte er südamerikanische Geschichte seit der Eroberung durch die Europäer; doch was er eigentlich zeigen wollte, war der mörderische Charakter der europäischen Moderne. Die Zerstörung der indigenen Kulturen sollte den Leser gedanklich direkt zum faschistischen Deutschland geleiten.

Was damals schon für Döblin Hitler war, ist jetzt für viele der IS – ein Inbegriff des Bösen – und der islamische Fundamentalismus jene geistige Strömung, die derzeit besonders viel Rätseln und Ratlosigkeit auslöst. Auch bei Rushdie ist Angst das beherrschende Motiv (mit ihrer Hilfe treibt sein religiöser Fanatiker die Menschen zu Gott); und auch Rushdie stellt das Denken eines berühmten arabischen Philosophen des Mittelalters gegen die Logik des religiösen Fanatismus. Bei ihm ist es Ibn-Ruschd, im Westen vor allem unter dem Namen Averroës berühmt.

Rushdies Roman (der im Vergleich zu frühen Werken wie „Mitternachtskinder“ schwach ist) ist kein traditioneller historischer Roman, er würfelt reale Zeiten wild durcheinander beziehungsweise entrückt sie in eine märchenhafte Welt, wobei die Erzählzeit 1000 Jahre in der Zukunft liegt.

Zurück nach Isfahan: Dort spielen nicht nur der „Medicus“ und „Der Trost des Nachthimmels“, sondern auch der kürzlich auf Deutsch erschienene fabelhafte historische Roman „Der Kalligraph von Isfahan“. Der Iraner Amir Hassan Cheheltan siedelt die Handlung seines Buchs, das wegen der Zensur nicht im Iran erscheinen kann, im 18. Jahrhundert an. Auch hier ist religiöser Extremismus ein zentrales Thema. Diesem stellt der Autor als friedliche Spielart des Islam den Sufismus entgegen – erzählt wird unter anderem, wie der Großvater der Hauptfigur heimlich die einzige Abschrift des Werks „Mathnawi“ aus der Feder des Sufi-Mystikers und Dichters Rumi hütet.

Zurück hinter die Postmoderne. Nicht erst seit Umberto Ecos „Der Name der Rose“ betonen historische Romane das Fiktionale des Erzählten, die Unsicherheit, was wirklich passiert ist, reflektieren über das Erzählen, spielen mit Texten und Zeiten, bauen Anachronismen und Parodien ein. „Der Kalligraph von Isfahan“ hingegen liest sich, als hätte es den postmodernen historischen Roman nie gegeben. Auch „Der Trost des Nachthimmels“ ist stark dem traditionellen Erzählen verhaftet. Karahasan bekannte selbst in einem Interview, er sehne sich nach der alten Romanform; und so spiegelt er zwar ihren Zerfall – aber mit spürbarem Bedauern. Seine Romane seien, sagt er, „ein Mosaik, zusammengefügt aus den Steinchen, zu denen die einstigen Monolithen zerfallen sind. Dagegen hilft weder Wissen noch Wollen, die Literatur spricht mit ihrer Zeit, auch wenn der Autor es nicht will.“ Auch sprachlich und inhaltlich verströmt „Der Trost des Nachthimmels“ eine rückwärtsgewandte Sehnsucht. Darin erinnert er an historische Romane der Romantiker, etwa Ludwig Tieck, Wilhelm Hauff oder Achim von Arnim – die angesichts des Zerfalls politischer Ordnungen in teilweise verklärte Vergangenheiten flüchteten.

Karahasan und mehr

„Der Trost des Nachthimmels“ (Suhrkamp):
Der Bosnier Dževad Karahasan (geb. 1953) floh 1993 aus Sarajevo und schrieb in mehreren Werken über dessen Belagerung, u.a. im „Tagebuch der Aussiedlung“. Fast alle seine Werke spiegeln die Zeitgeschichte seiner Heimat. Er lebt in Graz und Sarajevo.

Weitere historische Romane, die das Thema islamischer Fundamentalismus aufgreifen: „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Tage“ von Salman Rushdie (Bertelsmann), „Der Kalligraph von Isfahan“ von Amir Hassan Cheheltan (C.H. Beck), „Samarkand“ von Amin Maalouf(Insel).

Seldschuken

1047Beginn der Blütezeit des Reichs der Großseldschuken.

1071Die Seldschuken, sunnitische Muslime, leiten mit ihrem Sieg in der Schlacht von Manzikert die türkische Landnahme in Anatolien ein. Bis 1243 wandern bis zu eine Million Türken in Anatolien ein.

1092Ermordung des Wesirs Nezâm al-Molk durch die Assassinen, Tod von Sultan Malik-Schah. Thronkämpfe brechen innerhalb der Seldschuken aus.

1118Diese führen zur Teilung des Reichs in Khorasan/Transoxanien und die beiden Irak (so wurde die Doppelregion Irak und westlicher Iran im Mittelalter genannt). Unter dem in Khorasan regierenden Sultan Sandschar, Sohn Malik-Schahs II., erlebt die Seldschukenherrschaft eine letzte Blüte.

1141Nach einer Niederlage 1141 bei Samarkand wird der Sultan gestürzt. Er versucht bis zu seinem Tod vergeblich, das Seldschukenreich wiederzuerrichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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