Der Verlust der Menschlichkeit

Ahmed Khaled Towfik gilt als einer der einflussreichsten Autoren im arabischen Raum.
Ahmed Khaled Towfik gilt als einer der einflussreichsten Autoren im arabischen Raum. Towfik
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Der ägyptische Autor Ahmed Khaled Towfik zeichnet in »Utopia« ein Leben nach der gescheiterten Revolution nach. Eine glänzende Erzählung in düsterer Atmosphäre.

Für diese Droge ist keine Spritze notwendig. Kein Injizieren, kein Schlucken, kein Rauchen, kein Durch-die-Nase-Ziehen. Es reicht, ein paar winzige Tropfen Phlogistin – es duftet nach Zitrone – auf die Haut am Unterarm zu träufeln. Und dann: grüne Flammen vor den Augen, Erleichterung, Glücksgefühl, Ekstase. Den unbändigen Wunsch nach Phlogistin teilen sich im Ägypten des Jahres 2023 die Reichen mit den Armen. Es ist das einzig Verbliebene, das die beiden Gruppen noch miteinander verbindet.

Arm und Reich sind im Ägypten der nahen Zukunft minuziös voneinander getrennt. Die Mittelklasse ist längst verschwunden, die Reichen wohnen im Norden des Landes in schwer bewachten Kolonien, die Namen tragen wie Utopia. Dort fließt Phlogistin in Strömen, die Rasen sind grün und gestutzt, den Bewohnern fehlt es an nichts. „Was soll man in so einem künstlichen Paradies denn tun?“, schreibt Ahmed Khaled Towfik in seinem Roman „Utopia“ über das Leben in der Retortensiedlung der Reichen. „Schlafen, Drogen konsumieren, essen bis zum Umfallen, kotzen, bis man wieder Lust auf Essen hat, Sex haben.“

Und auf der anderen Seite des Landes haben die Armen jegliche Menschlichkeit aufgegeben. Sie leben in einer bestialischen Ödnis, seit Jahrzehnten ist niemand mehr einer geregelten Arbeit nachgegangen, die Infrastruktur ist kollabiert, man vegetiert in stinkenden Gossen dahin. Selbst Hunde gibt es keine mehr, sie wurden aufgegessen. „Durch die ganze Armut sind alle moralischen Barrieren gefallen“, schreibt Towfik, „und nichts ist einfacher zu haben als Sex. Sex gegen einen geringen Preis, ansonsten Vergewaltigung.“

Immenser Wohlstand und das pure, scheußliche Elend – der ägyptische Autor zeichnet in seinem Buch zwei extreme Realitäten nach, dazwischen gibt es nichts. Ägypten ist seit einer gescheiterten Revolution – bei der Lektüre werden Erinnerungen an den Arabischen Frühling 2011 wach – in einen erschütternden Zustand der Lethargie verfallen. Die Israelis haben eine Alternative zum Sueskanal gebaut, die Amerikaner eine Alternative zum Erdöl gefunden. Niemand braucht mehr das Land am Nil.

In diese düstere Atmosphäre verwebt Towfik eine bestürzende Handlung. Den Jugendlichen Utopias, „verweichlicht von Luxusleben und Langeweile“, gibt nur noch die „Jagd“ einen Kick – die Jagd nach armen Menschen, die getötet werden und deren Arm abgetrennt wird, eine Trophäe sozusagen. Die Jagd findet draußen vor den schützenden Mauern statt, die Reichen schleichen sich hinaus und versuchen, inkognito zu bleiben, andernfalls sind sie den Mittellosen, den Feinden Utopias, komplett ausgeliefert.

Mensch oder Hyäne. Der namenlose Ich-Erzähler, ein entsetzlich verwöhnter, intellektuell unterforderter Teenager, will den Arm eines Armen. Gemeinsam mit seiner Freundin Germinal schafft er es nach draußen, sie werden erkannt und beinahe gelyncht, bis sie vom ehemaligen Studenten Gâbir gerettet werden. Fortan sind sie Gâbir ausgeliefert, aber er ist einer, der sich auch in der Gesetzlosigkeit Würde und Humanität bewahren will. „Ich will kein Blutvergießen. Ich will keine Toten“, sagt Gâbir in einem Monolog mit sich selbst; dieses Gefühl sei „das Einzige, was mir zeigt, dass ich noch ein Mensch und keine Hyäne bin“.

Seinen Roman schreibt Towfik, der als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Autoren im arabischen Raum gilt, aus zwei Perspektiven: Jäger (Erzähler, Germinal) und Beute (Gâbir), wobei sich die Zuschreibungen je nach Sichtweise verändern und der Jagende zum Gejagten wird. Beide Welten sind einander völlig ausgeliefert. Eine Revolution der Armen würde das Ende der Reichen bedeuten. Aber wird es jemals so weit kommen? Eine Revolution nach der anderen?

Towfiks Roman ist ein gespenstischer Blick auf die Zukunft eines Staates, dessen Bürger mit ihrem Wunsch nach Freiheit und Demokratie gescheitert sind. Seine glänzende Erzählung ist fiktiv, aber Towfik belässt es nicht dabei. Der Autor, heißt es im Vorwort, sei sich der baldigen Existenz dieses Ortes gewiss.

Neu Erschienen

Ahmed Khaled Towfik
„Utopia.

Roman aus Ägypten“,

übersetzt von
Christine Battermann Lenos Verlag
188 Seiten
19,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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