Vassilakou: "Die Flüchtlinge werden nach Wien getrieben"

„Die Mindestsicherung ist unantastbar“, sagt die Wiener Vizebürgermeisterin, Maria Vassilakou
„Die Mindestsicherung ist unantastbar“, sagt die Wiener Vizebürgermeisterin, Maria Vassilakou(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die grüne Wiener Vizebürgermeisterin, Maria Vassilakou, will, dass die Bundesländer für ihre nach Wien abgewanderten Mindestsicherungsbezieher zahlen. Und: Der Bund soll einheitliche Standards vorschreiben.

Die Presse: Bis zu 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge kommen nach Wien, und es werden wohl noch mehr werden, wenn andere Bundesländer die Mindestsicherung für Flüchtlinge kürzen. Was macht Wien dann?

Maria Vassilakou: Ich sehe zwei Probleme. Das eine ist ein grundsätzliches: die Entsolidarisierungstendenzen in der Gesellschaft. Die Kürzung der Hilfe für Flüchtlinge ist nur der Anfang. Aber wir brauchen Solidarität, sonst tragen wir die sozialen Folgekosten: Obdachlosigkeit, soziale Spannungen. Das zweite Problem ist Wien-spezifisch: Die Flüchtlinge werden derzeit nach Wien getrieben. Es regiert das Florianiprinzip. Wir brauchen daher Lösungen, damit Flüchtlinge in jenen Bundesländern, in denen sie untergebracht sind, auch bleiben können.

Sie meinen die Residenzpflicht?

Nein. Die funktioniert in der Praxis nicht. Davon abgesehen halte ich nichts davon, dass sich Menschen innerhalb Österreichs jahrelang nicht frei bewegen dürfen. Es braucht eher ein Gesetz, das bundesweite Mindeststandards festsetzt.

Soll die Mindestsicherung von der Länder- zur Bundeskompetenz werden?

Auf den ersten Blick spricht nichts dagegen. Aber ich fürchte, dass eine Kompetenzverschiebung mit Kürzungen einhergeht. Daher will ich nur, dass der Bund verbindliche Standards vorschreibt.

Die gibt es ja schon.

Ja, aber sie sollen einzementiert werden. Derzeit können sie – wie wir an der Flüchtlingsdebatte sehen – von den Ländern unterwandert werden. Darüber hinaus braucht es einen finanziellen Ausgleich für jene, die mehr anerkannte Flüchtlinge aufnehmen.

Wie hoch wäre der Mindeststandard? Die aktuellen 840 Euro?

Der Betrag ist keine Glaubenssache. Das Ministerium muss die Summe mit der Armutskonferenz ermitteln und regelmäßig kontrollieren, ob sie den Lebenserhaltungskosten entspricht.

Sie haben von einem Ausgleich für jene gesprochen, die mehr Flüchtlinge aufnehmen. Wie soll der funktionieren?

Man kann das über einen Ausgleichsfonds machen. Ein Mechanismus existiert aber bereits. Es gibt eine 15a-Vereinbarung, die besagt, dass wenn jemand in einem Bundesland Mindestsicherung erhält und dann seinen Wohnsitz verändert, das erste Bundesland weiterhin für die Auszahlung der Mindestsicherung verantwortlich ist. So lange, bis diese Person einen Job findet (Anm.: siehe Info-Kasten).

Aber die Lösung ist diese Regelung offenbar nicht. Sonst hätte Wien kein Problem.

Die Regelung ist veraltet und hat Lücken. Wien müsste zudem systematisch die Mittel zurückholen, die wir de facto vorstrecken. Das Problem ist: Wenn andere Länder die Mindestsicherung kürzen, muss Wien die Differenz bezahlen. Darum will ich bundesweite Standards.

Der Bund hat ein Gutachten zur Frage beauftragt, ob man Österreicher und anerkannte Flüchtlingen punkto Mindestsicherung unterschiedlich behandeln darf. Was heißt es für Wien, wenn das rechtens ist?

Derzeit versucht man überall dort, wo man ethisch versagt und seine Grundwerte über Bord geworfen hat, sich hinter Paragrafen zu verstecken. In der Politik darf es aber nicht darum gehen, was alles gerade noch zulässig ist, sondern darum, in welcher Welt wir leben wollen. Ich unterscheide nicht zwischen Menschen in Not.

Auch nicht zwischen Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten, wie das einige Länder bei der Mindestsicherung tun?

Subsidiär Schutzberechtigte sind in der Regel Menschen, die man nicht abschieben kann, weil ihnen schwere Verfolgung oder Tod droht. Da ich die Mindestsicherung generell nicht kürzen will, heißt das: Nein, auch für diese Menschen will ich sie nicht kürzen.

Bei der Wiener SPÖ klingt das nicht so definitiv.

Davon habe ich nichts vernommen. Für mich ist die Mindestsicherung, so wie wir sie haben, unantastbar.

Ihre Vorschläge zur Mindestsicherung in Ehren, aber was macht Wien, wenn die jetzige Entwicklung fortschreitet und der Zustrom steigt?

Es gibt keinen Plan B. Wenn das so weitergeht, bleibt Wien so lange auf den Kosten sitzen, bis man uns finanziell in die Knie zwingt. Aber das Problem ist weitreichender: Das Prinzip Mindestsicherung wird vernichtet, wenn man beginnt, zwischen Mensch und Mensch zu unterscheiden. Ich warne alle, die glauben, dass es nur Flüchtlinge trifft – morgen sind es Alleinerzieherinnen, Geschiedene, Alte.

Auch unabhängig von der Mindestsicherung ziehen viele Flüchtlinge nach Wien. Zu viele?

Stimmt, sie kommen auch so. Aber nicht im selben Tempo, über Nacht, wie das bei Kürzungen der Mindestsicherung rundum wäre. Auf die üblichen Abwanderungsprozesse kann man sich auch vorbereiten.

Gibt es bei den Grünen Ideen, wie man die Mindestsicherung treffsicherer machen, also sparen kann?

Klar, man muss Systeme regelmäßig modernisieren. Die Details überlasse ich unseren Experten.

Im Wiener Regierungsprogramm steht, dass es mehr Sachleistungen für Flüchtlinge geben soll. Man modifiziert also bereits.

Sachleistungen können sinnvoll sein. Beim Heizkostenzuschuss haben wir etwas Ähnliches gemacht.

Im Koalitionspakt steht auch, dass man Ein-Personen-Unternehmen in die Mindestsicherung aufnehmen will. Kommt das?

Da laufen die Gespräche.

Der Bürgermeister steht hinter der Flüchtlingspolitik des Kanzlers. Wie einig ist sich Rot-Grün in der Flüchtlingsfrage eigentlich noch?

Häupl hat Widerstand in den eigenen Reihen und einen Bundeskanzler im Nacken, der die spektakulärste Pirouette gedreht hat, die die europäische Politik gesehen hat. Für Wien gilt: Wir sind mit einer eindeutigen Haltung angetreten – die heißt: Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, werden bei uns ein sicheres Zuhause finden. Daran wird sich nichts ändern, solange die Grünen in der Regierung sitzen.

LEXIKON

Wer zahlt die Mindestsicherung?
Es gibt eine 15a-Vereinbarung, die es ermöglicht, Geld für Mindestsicherungsbezieher von anderen Bundesländern zu regressieren. Sie besagt: Wenn die Betroffenen während der letzten sechs Monate vor Gewährung der Mindestsicherung mindestens fünf Monate in einem anderen Bundesland gelebt haben, ist dieses weiter zuständig. Im Fall von Wien heißt das: Wien zahlt die Mindestsicherung für Zugezogene zwar aus, kann sie aber vom „ersten“ Bundesland zurückholen. Das geht aber nur, wenn der Betroffene binnen vier Wochen nach der Übersiedlung einen Antrag auf Mindestsicherung stellt. In Summe kommt die 15a-Vereinbarung nicht oft zur Anwendung: 2014 betraf das 610 Fälle von Wiener Mindestsicherungsbeziehern, die in ein anderes Bundesland auswanderten. Vice versa gab es 775 Fälle von Nichtwienern, die in Wien Mindestsicherung bezogen. Allein in Wien gibt es aber 19.000 Vollbezieher und 26.000 Teilbezieher. Neben der Anwendung der 15a-Vereinbarung schlagen die Wiener Grünen, konkret Sozialsprecherin Birgit Hebein, einen Ausgleichsfonds vor: Er soll Mehrkosten für jene Länder abdecken, die keine Kürzungen etwa für Flüchtlinge vornehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2016)

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