Mit dem ganzen Körper reden

Gebärdensprache
GebärdenspracheMichaela Bruckberger
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Wie Sprache entstanden ist, ist umstritten. Aber man kann es studieren, an Sprachen, die gerade entstehen: Gebärdensprachen.

Wie kam die Sprache, auf einen Schlag oder graduell? Das wird seit Langem debattiert, klären könnte man es, wenn man das Entstehen einer Sprache beobachtet: Dazu müsste man nur Babys isoliert aufwachsen lassen. Dann wird man schon hören, ob und wie sie zu reden beginnen. Das Szenario gilt unter Linguisten als das „verbotene Experiment“, stattgefunden hat es, Herodot überlieferte es: Pharao Psammetichus (664–610 v. Chr.), wollte wissen, ob Sprache angeboren ist und welche die erste war. Dazu ließ er Kleinkinder in eine Einöde bringen und von einem Schäfer hüten, dem Sprechen untersagt war.

Nach zwei Jahren kamen erste Wörter, am häufigsten „becos“, es ist Phrygisch und bedeutet „Brot“. Ähnliche Experimente gab es viel später und in viel größerem Ausmaß wieder, allerdings ohne jede Absicht: Als 1997 in Nicaragua die Sandinisten den Diktator Somoza stürzten, gehörten gehörlose Kinder zum Erbe: Sie waren ohne jede Betreuung geblieben. Man brachte 70 in eine Schule, dort sollten sie Lippenlesen lernen. Daran hatten die Kinder keinen Spaß, sie erfanden eine eigene Sprache, eine Gebärdensprache (NSL). Ganz ähnlich halfen sich vor 70 Jahren Beduinen in einem Dorf in Israel: In einer Familie war Gehörlosigkeit erblich, heute leben 150 der 3500 Bewohner damit.

Sie kommunizieren in ihrer Gebärdensprache (ABSL), eine zweite, andere Gruppe in Israel tut es auch (in ISL), sie stammt von Immigranten, die vor dem Zweiten Weltkrieg kamen. Linguistin Wendy Sandler (University of Haifa) schaut beiden zu: In ABSL und ISL werden die Gebärden von Generation zu Generation komplexer, erst sind einzelne Wörter lose verbunden, dann kommt Struktur hinein, erst einfache, dann elaboriertere.

Immer elaborierter und rascher

Und die Sprache kommt in den ganzen Körper: Die erste Generation der Sprecher kommuniziert nur mit Gesten einer Hand, die nächste bringt den Kopf ins Spiel, die dritte die Gesichter, die vierte die zweite Hand und den ganzen Oberkörper. Das bringt nicht nur reichere Möglichkeiten, sondern auch Tempo: In ISL-Familien schaffen die Enkel 153 Zeichen pro Minute, ihre Großeltern brachten es auf nur 103 (Science 352, S. 392). Diese Befunde hat Sandler in den USA präsentiert. Zugehört hat u. a. Ann Senghas, sie studiert die Entwicklung in Nicaragua und sieht dort das Gleiche: „Das bedeutet, dass wir alle Information auf ähnlichen Wegen im Gehirn bündeln. Darum geht es bei Sprache.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2016)

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