Ein zerbrochenes Fenster hält Ungarn in Atem

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HUNGARY-POLITICS-PARLIAMENT-CONSTITUTION(c) APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK
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„Ungarn wird kein Köln“, tönt die Budapester Regierung nach einer Meldung über Migranten, die Mädchen belästigt haben sollen. Nur: Stimmt die Nachricht?

Budapest. Am Mittwoch ging in der ungarischen Kleinstadt Körmend ein Fenster zu Bruch. Seither redet das ganze Land darüber, die Parteien überschlagen sich mit zündenden Stellungnahmen. Regierungschef Viktor Orbán persönlich hat sich der Sache angenommen. Köpfe könnten rollen. Und das alles, zumindest der örtlichen Polizei zufolge, wegen einer Falschmeldung.

Die Meldung, auf deren Richtigkeit die Redaktion besteht, lief am Donnerstagmorgen auf der Internetseite des eher linksliberalen und ausgesprochen regierungskritischen Senders ATV. Darin hieß es, im Flüchtlingslager in Körmend – an der Grenze zu Österreich – habe eine Gruppe junger Migranten durch ein Fenster die örtliche Junior-Mädchen-Handballmannschaft beim Training in einer Turnhalle beäugt. Die Halle liegt unmittelbar neben dem Flüchtlingslager, das erst wenige Tage zuvor am Montag in Betrieb genommen worden war. Rasch sei jedoch der diensthabende Offizier der Unterkunft herbeigeeilt und habe die jungen Männer aufgefordert, sich zu entfernen. Da sei es zu einem heftigen Wortwechsel gekommen, und einer der Migranten habe das Fenster eingeschlagen.

Fast alle Medien im Land griffen die Meldung sofort gierig auf. Genau so gierig stürzten sich die Politiker darauf. Die rechte Jobbik-Partei geißelte die Öffnung des Lagers in Körmend. Die Regierungspartei Fidesz ließ wissen: „Bei uns wird es kein Köln geben!“ – also keine Belästigungen von Mädchen und Frauen durch Migranten wie in der Silvesternacht in Köln. János Lázár, der Leiter des Ministerpräsidentenamtes, teilte mit, Viktor Orbán habe den Innenminister angewiesen, die Angelegenheit zu untersuchen, da in Körmend Mädchen belästigt worden seien „und die Polizei Ordnung schaffen musste“.

Die Polizei selbst jedoch erklärte in einer Pressekonferenz am Donnerstagnachmittag, nichts in der Meldung entspreche den Fakten. Sie sei überdies geeignet, „Stimmung zu machen“ gegen Migranten. Es gebe keine Augenzeugen, wie das Fenster zerbrochen sei, der diensthabende Offizier des Lagers sei entgegen dem Bericht gar nicht dort gewesen, und man habe von dem Fenster aus auch keinen Einblick in die Turnhalle gehabt. Von dort aus habe also niemand die trainierenden Mädchen beobachten können. Diese seien auch nicht, wie in dem Bericht behauptet, eilig aus der Halle „gerettet“ worden. In Körmend herrsche Ruhe.

„Ihr werdet euch verbrennen“

So weit, so verwirrend. Aber ATV setzte in einem neuen Bericht am Donnerstagabend noch einen drauf: Der Trainer der Mannschaft, András Faragó, habe der Redaktion den ursprünglich geschilderten Tathergang bestätigt. Wegen des Fenster-Zwischenfalls habe das Training sofort unterbrochen werden müssen, die Mädchen seien an einen sicheren Ort gebracht worden.

Und nun wird es noch bunter: Eine Quelle der Stadtverwaltung sagte diesem Reporter am Freitag, ein ATV-Journalist habe der Ortsverwaltung gedroht: „Ihr werdet euch an dieser Geschichte verbrennen“, habe er gesagt. Das Bürgermeisteramt stellt sich bisher auf die Seite der Polizei, vertritt also die Auffassung, es sei nichts Schlimmes passiert. Um es noch verwirrender zu machen: Der Bürgermeister gehört zur Regierungspartei Fidesz. Also zu der Partei, der zufolge sehr wohl Mädchen in Körmend belästigt wurden.

Nur drei Migranten nach Österreich

Ähnlich wie in Deutschland nach den Ereignissen in Köln eine Debatte begann über die Rolle der Polizei, der Politik und der Medien in der Berichterstattung, so beginnt nun auch in Ungarn eine heftige Diskussion: Was geschah wirklich, und was darf man wie berichten? Verschweigt die Polizei Fakten?

Körmend ist auch in Österreich ein Thema, vor allem, weil man fürchtet, dass von dort Migranten über die grüne Grenze kommen könnten. Entsprechend wurden die Kontrollen an diesem Grenzabschnitt verschärft. Schon am Dienstag, einen Tag nach der Öffnung des Lagers, meldete die österreichische Polizei die Festnahme eines Schleppers, der fünf Migranten transportiert habe – „möglicherweise“ aus Körmend. Auch das dementierte die ungarische Polizei in ihrer Pressekonferenz am Donnerstag: Nur drei Migranten aus Körmend hätten bisher versucht, „mit dem Zug“ nach Österreich zu kommen, seien aber gescheitert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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